Der Maler Ernst Ludwig Kirchner

Die Winterausstellung 2011/12 des Kirchner Museum Davos setzt Massstäbe!

«Keiner hat diese Farben wie ich. Kirchner malt» heisst der etwas sperriger Titel dieser für mich besten Ausstellung des malerischen Oeuvres des grossen deutschen Künstlers. Der Farbenreichtum und die Leuchtkraft seiner Gemälde, seine expressiven Figurenbilder, die Grossstadtszenen, die majestätischen Davoser Berglandschaften und seine abstrakten Spätwerke faszinieren spontan. Wie Kirchner über drei Jahrzehnte hin, sich ständig wandelnd, seine Bilder erfunden hat, zeigt die von der Museumsdirektorin Karin Schick und der Forscherin Heide Skowranek sinnvoll kuratierte Ausstellung mit rund 150 Bildern.

Der Maler, 1920/21

Ernst Ludwig Kirchner war einer der ersten Künstler, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland gegen die akademische Tradition wandten. Sie machten Farbe und Form zu eigenständigen Themen der Malerei. Auf der Basis eines aus drei Primär- und drei Sekundärfarben bestehenden Farbenkreises hatte Goethe einst seine Farbtheorie entwickelt, die noch heute gilt. Die im Farbkreis gegenüberliegenden komplementären Farben sollen sich im Kunstwerk zu einem harmonischen Ganzen vereinen, kalte und warme Töne, helle und dunkle Bereiche ausgewogen verteilen. In einzelnen seiner Werke spielt ein dreidimensionaler Doppelkegel eine zentrale Rolle, so etwa im monumentalen Gemälde der sechs Mädchen in den Farbstrahlen, in denen sich – wie im Lehrbuch – die Primärfarben Rot, Gelb, Blau zu den Sekundärfarben Orange, Grün, Violett mischen.

Tanzende Mädchen in farbigen Strahlen, 1932 – 1937

1903 bis 1908: Zeit des Experiments

Am 7. Juni 1905 gründete Kirchner mit Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff die Künstlergemeinschaft «Brücke». In München hatte er neben den alten Meistern die Künstler der europäischen Moderne kennen gelernt. Ihr Bruch mit der Tradition war radikal. Sie wählten alltägliche Inhalte für ihre Bilder, verzichteten in ihrer Malerei auf Details und geschlossene Oberflächen, weswegen ihnen Unfertigkeit und mangelnde Maltechnik vorgeworfen wurde. Ihr Hauptinteresse galt der Farbe. Losgelöst vom Motiv sollte sie kraftvoll und eigenständig wirken. Das Erlebnis des Postimpressionismus wirkte bei Kirchner in farbintensiven, fiebrigen Gemälden mit Tupfen, Linien und Kontrasten in Primär- und Sekundärfarben nach.

Frauenkopf vor Sonnenblume, 1906

«Brücke» und Dresden bis 1911

Die «Brücke» erweiterte sich um Max Pechstein, Otto Mueller, Cuno Amiet, Kees van Dongen, Akseli Gallen-Kallela und zeitweise Emil Nolde. In ihrem Programm formulierten sie: «Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.» Ihre Darstellungen sollten das innere Erleben und die Empfindung vor dem Motiv vermitteln. Dafür wurden die traditionelle Perspektive und akademischen Proportionen durch reduzierte Formen, einen raschen Pinselgestus und leuchtende Farbigkeit ersetzt. Das Unverfälschte fanden sie auf der Strasse, im städtischen Treiben, in der Landschaft, vor allem aber im weiblichen Akt im Atelier oder in der freien Natur. Kirchner wollte das echte Leben fassen. Seine Bleistift- und Farbstiftskizzen übertrug er auf die Leinwand, so etwa beim Bild der Dresdener Strassenbahn: mit farbigen Linien, dünnen, leuchtenden Malschichten und dynamischen Pinselstrichen.

Strassenbahn (in Dresden), 1909

1908 bis 1914: das Paradies Fehmarn

Während Monaten genoss Kirchner zwischen 1908 und 1914 auf der Ostseeinsel Fehmarn nicht nur das freie, ungezwungene Leben fern der Stadt, sondern arbeitete dort intensiv. Um 1912 formulierte er seinen Traum der Einheit des nackten Menschen mit der ursprünglichen Natur. Den neuen Bildern hauchte er die frische Meeresluft, den sandgetränkten Wind, die warme Haut ein. Von Farbe getragen wirken die meisten dieser Gemälde leicht wie Zeichnungen. Die menschlichen Körper, Gegenstände und Landschaftselemente sind von schwarzen, blauen oder violetten Linien und Schraffuren umfangen, die Farben meist dünn, an einigen Stellen transparent, aufgetragen. Das Fliessende, Durchsichtige und die einfache, harmonische Farbpalette entsprechen nicht nur dem Motiv, sondern auch dem Bildgehalt: dem an Ursprünglichkeit orientierten Lebensgefühl der Zeit und Kirchners Überzeugung, der Mensch soll in der Natur aufgehen.

Altes Haus auf Fehmarn, 1908

Berlin 1911 bis 1915

Im Oktober 1911 zog Kirchner, wie zuvor Pechstein und Heckel, nach Berlin. Bis zur Auflösung der Gemeinschaft im Mai 1913 setzten die Mitglieder der «Brücke» ihre Zusammenarbeit fort, orientierte sich aber auch jeder für sich neu. Kirchner fand wichtige Kontakte zu den Schriftstellern Alfred Döblin, Karl Theodor Bluth und dem Philosophen Eberhard Grisebach. Hier lernte er auch Erna Schilling kennen, die seine Lebensgefährtin wurde. Die Metropole bot ihm künstlerische Inspiration und faszinierende Motive. Er malte Stadtansichten, Figuren, Varieté- und Zirkusbilder, so die berühmte Strassenszene mit Kokotten und Freiern. Seine Bilder sind kraftvoller Ausdruck einer modernen, von Industrie geprägten Urbanität. Sie tragen die nervöse Atmosphäre der Vorkriegsjahre in sich: Landschaften und Interieurs sind perspektivisch verzerrt, Strassen und Zirkusarenen dynamisch angeschnitten, Akrobatinnen und Tänzerinnen in eckiger Verrenkung gemalt, Frauenakte in eine neue harmonische Einheit gebunden.

Badende Frauen, Mittelbild eines Triptychon, 1914/15 und 1925

Davos: Erlebnis der Berge zwischen 1917 und 1926

Nach einem Zusammenbruch während seiner Ausbildung zum Soldaten und anschliessenden Aufenthalten in Sanatorien zog sich Kirchner in die Schweizer Berge zurück. Schon 1917 war er in Davos und hatte auf der Stafelalp ob Frauenkirch gelebt und gearbeitet, ab 1918 hielt er sich erneut dort auf. Die ländliche Umgebung war ihm zwar fremd, doch er nahm sie mit grosser Offenheit wahr. Die raue Bergwelt, das Leben der Alpbauern und die Rhythmen der Natur faszinierten ihn. Er malte Menschen bei der Arbeit, Tiere beim Grasen, Berge, Pflanzen, Wolken. Die majestätische Natur war ihm ein Seherlebnis. Im Oktober 1918 schrieb er: «Die Farben sind wunderbar. (…) Man lernt überhaupt erst hier den Wert der einzelnen Farben kenne.» Mit der Zeit verlor sich die nervöse Pinselschrift und Kirchner fand wieder zu reinen, leuchtenden Farben, die er dünn, matt deckend und nur selten pastos auftrug (so auch im Selbstbildnis des Ausstellungsplakates).

Mondaufgang auf der Stafelalp, 1917

Zeit der Reife 1927 bis 1938

Trotz der Zurückgezogenheit blieb Kirchner gut informiert über die internationalen Tendenzen der Kunst. Mit den Ideen der Bauhaus-Mitglieder war er ebenso vertraut wie mit Werken von Picasso, Léger oder Le Corbusier. Um 1927 befasste er sich mit den zeitgenössischen Maltheorien. Er abstrahierte seine Darstellungen nicht nur bei aktuellen Werken, sondern auch beim Überarbeiten alter, beim Transport beschädigter Bilder. Kirchner reduzierte die Formen. Der flüchtige Pinselstrich wich einer Komposition aus geschlossenen Farbformen, der Bildraum wurde zur Bildfläche.

Akrobatenpaar, Plastik, 1932/33

Nachbemerkungen

Die Ausstellung dauert bis 15. April 2012. Weitere Infos.

Es gibt öffentliche, private und Kuratoren-Führungen, Vorträge und Workshops für Kinder und Erwachsene.

In einem weiteren Teil dieser wunderbaren Ausstellung werden in einem eigenen Saal und an Monitoren höchst interessante Ergebnisse von aktuellen Forschungsprojekten, von mikroskopischen und Röntgen-Untersuchungen und solchen mit ultraviolettem Licht vorgestellt.