Corona, von der Belletristik beleuchtet, Teil 1
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Angesichts der aktuellen Corona-Pandemie und ihrer Informationsflut versuche ich nachstehend, aus der Sicht der Belletristik Pandemien zu betrachten. Dafür habe ich Bücher von Albert Camus, Friedrich Dürrenmatt und José Saramago gelesen – und war überrascht und betroffen: Gelegentlich musste ich mich sogar fragen, ob das Gelesene sich im Roman oder in der Aktualität, fictional oder non-fictional, abspielt. Was ich bereits wusste, konnte ich jetzt erleben: dass Kunst nämlich nicht nur Abbilder, sondern auch Vorbilder und im Glücksfall Sinnbilder schaffen kann.
«Die Pest» von Albert Camus (1947)
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Dass «Die Pest» von Albert Camus aus Büchergestellen hervorgeholt und in Buchläden neu ausgestellt wird, liegt auf der Hand. Schon bei seinem Erscheinen traf das Buch, nach der Spanischen Grippe (1918/20) und dem Zweiten Weltkrieg (1939/45), den Nerv der Zeit – und wird während der Corona-Pandemie zum «Buch der Stunde».
In Oran kriechen, so heisst es im Roman ab der fünften Seite, Ratten aus ihren Löchern, verenden zu Tausenden auf den Strassen und vor den Haustüren. Kurz darauf schwellen bei Menschen die Lymphknoten in Leisten und Achselhöhlen an, viele sterben an einem heimtückischen Fieber. Die Pest ist zurück! Trotz unmissverständlichen Warnungen wollen die Behörden die Seuche nicht beim Namen nennen, lehnen Vorsichtsmassnahmen ab. Erst als sich die Ausbreitung nicht mehr leugnen lässt, wird den Kranken Quarantäne verordnet und schliesslich die ganze Stadt abgeriegelt. Erst die Lage herunterspielen, dann drastische Massnahmen ergreifen: Mit solchem Vorgehen verunsichern im Roman wie auch heute Regierungen ihre Bürger. Bilder aus italienischen Spitälern, von brasilianischen Friedhöfen und amerikanischen Krawallen liefern aktuelle Illustrationen zu Ereignissen, die im Buch beschrieben werden.
Vergleiche drängen sich auf, machen den Roman zeitlos, werden zum Gleichnis, wie extreme Ereignisse die Menschen gleichmachen und in Krisen Zuwendung verlangen. Dr. Rieux, der Arzt in Oran, wird zum Symbol dafür, was Mut machen kann. In einem Interview meint der Autor: «Es gibt nichts Schändlicheres als die Krankheit». Genau dagegen lehnt sich Rieux auf und wird für Camus zum Symbol seines Humanismus. Mit dieser Figur spannt der Autor einen Bogen über sein philosophisches und dichterisches Oeuvre, das immer wieder die Frage nach dem Sinn stellt.
«Der Mythos von Sisyphos», ein Exkurs (1942)
«Die Pest» basiert auf Camus' fünf Jahre früher erschienenem Essay «Der Mythos von Sisyphos», in welchem er die Philosophie des Absurden begründet und seine Form des Existenzialismus darlegt: Dem Leben durch bewusste Anerkennung des Absurden einen Sinn geben! Aus dem Essay folgen hier drei Sätze, die man als Kommentar zu Corona verstehen kann: «Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Strassenecke anspringen. An sich ist diese Welt nicht vernünftig, das ist alles, was man von ihr sagen kann. Das Absurde entsteht aus der Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.»
«Die Virusepidemie in Südafrika» von Friedrich Dürrenmatt (1994)
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Durch das Magazin des Tagesanzeigers vom 20. Juni 2020 bin ich auf Friedrich Dürrenmatts Ballade «Die Virusepidemie in Südafrika» aus dem Jahre 1994 gestossen, die heute zur Zeit von Corona, so meine ich, genau gleich hätten geschrieben werden können. Wenn ich die Ereignisse rund um die aktuelle Pandemie betrachte, komme ich zum Schluss, dass wir uns in einem weltweiten, fundamentalen Tohuwabohu, befinden, wie es der Schriftsteller in seiner brillanten, kaum bekannten Parabel beschrieben hat. Nachfolgend zitiere ich einen Ausschnitt (in dem gewisse dürrenmattsche Spracheigenheiten beibehaltend sind):
«Eine Virusepidemie war ausgebrochen. Die Weissen wurden schwarz. Die Weissen wagten sich nicht ins Freie, waren sie schwarz geworden, die Frauen nicht in die Einkaufszentren und in die Friseursalons, die Männer nicht ins Büro. Die Polizei und die Armee bekämpften einander. Die noch weissen Polizisten und Soldaten schossen auf die schwarz gewordenen weissen Polizisten und Soldaten, in der Meinung, diese seien Schwarze, die sich der Uniformen und Waffen der Weissen bemächtigt hätten, und weil die schwarzen weissen Polizisten und Soldaten nicht beweisen konnten, dass sie Weisse waren, schossen sie auch. Tausende fielen, weil viele Schwarze zugunsten der schwarzen Weissen in die Kämpfe eingriffen, in der Meinung, diese seien Schwarze. Die Weissen schienen zu siegen, doch nahm zu ihrer Bestürzung ihre Zahl ständig ab, weil immer mehr schwarz wurden. Die Virusepidemie verbreitete sich unaufhaltsam unter den Weissen; nach Schnupfen und Fieber Veränderung der Hautfarbe. Die schwarzen Weissen wussten sich von den schwarzen Schwarzen nicht zu unterscheiden und die schwarzen Schwarzen von den schwarzen Weissen nicht. Nach den blutigen Kämpfen, eine gespenstische Ruhe. Südafrika war wie gelähmt. Der Regierungspräsident erholte sich erst nach Wochen vom Schock. Der Ministerrat wurde einberufen. Nur der Finanzminister, der eben aus Europa kam, wo er für neue Kredite geworben hatte, war noch nicht schwarz. Schon fiebrig fiel er in Ohnmacht, die Sitzung musste auf den andern Tag verschoben werden, da war er auch schwarz.»
Welch ein Tohuwabohu! Identitäten lösen sich auf, Rassen mutieren, Freund und Feind vertauschen ihre Rollen, es herrscht eine weltumspannende Aufregung, staatliche Institutionen, das Gesundheitswesen, das Militär und die Polizei sowie die Wirtschaft werden involviert und durcheinandergewirbelt. – Aktuelle Beispiele der Wirkungen und Folgen von Corona und dem aktuellen Zustand der Welt lassen sich Satz für Satz mit den Ereignissen in der Parabel des literarischen «Gedankenschlossers und -konstrukteurs» Friedrich Dürrenmatt vergleichen. Er hat in der Beschreibung der damaligen Situation über weite Strecken die aktuelle beschrieben.
«Die Stadt der Blinden» von José Saramago (1995)
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Dem portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago dürfte mit dem Roman «Die Stadt der Blinden» ein gültiges Gleichnis gelungen sein, das zeitübergreifend sich der Frage widmet, was passieren kann, wenn eine Epidemie ausbricht, wenn beispielsweise die Menschen einer Stadt plötzlich, scheinbar grundlos, nichts mehr sehen? Ein Augenarzt, der helfen möchte, wird sein eigener Patient. Lediglich seine Frau simuliert Blindheit, um den andern helfen zu können. Saramago spielt eindringlich mit der Ohnmacht der Betroffenen, denen nicht geholfen werden kann, und der Regierungen, denen nicht zu helfen ist. Schliesslich steckt die Staatsgewalt alle Blinden in eine leerstehende Irrenanstalt, versorgt sie anfänglich mit Lebensmitteln, doch schon bald wird, wer zu fliehen versucht, erschossen. Die Machthaber ziehen sich zurück, überlassen die Hilflosen sich selbst. Innerhalb der Anstalt entstehen Chaos und Barbarei, Gruppen bekämpfen sich, Männer vergewaltigen, Frauen prostituieren sich, es beginnt ein scheussliches Morden. Die Schilderungen sind teilweise von einer kaum zu ertragenden Brutalität. Müssen wir uns, so frage ich mich, auf Ähnliches vorbereiten? Im Blick auf die sich intensivierenden Völkerwanderungen, die Vergrösserung der Kluft zwischen Arm und Reich, die rassistischen und religiösen Kriege und die ökologischen Katastrophen? Am Schluss des Romans wird ein Blinder, der noch nie im Leben sehen konnte, sehend.
«Die Stadt der Blinden» kann als Saramagos Antwort auf Camus' «Die Pest» gelesen werden. Für ihn ist Blindheit eine Metapher für die Unfähigkeit des Menschen, Gut und Böse zu unterscheiden, mehrfach spricht er von der Blindheit des Herzens: «Bitte fragt mich nicht, was gut und was böse ist, wir wussten es, als die Blindheit noch eine Ausnahme war. Jetzt ist sie die Norm.» Saramago gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum, ergreift aber Partei für die Opfer der Willkür und Gewalt. Gegen Ende beginnt der Arzt nachzudenken, ob nicht Organisation helfen könnte; denn auch der Körper funktioniert als ein organisiertes System, ist lebendig, solange er organisiert ist, der Tod ist die Auswirkung einer Desorganisation. «Erste Blinde beginnen über eine Art gesellschaftliche Organisation nachzudenken, doch bevor sich ihre Überlegungen in der Praxis bewähren müssen, werden alle Blinden wieder sehend.»
Zwischenbilanz
«Das Kunstwerk entsteht aus dem Verzicht des Verstandes, das Konkrete zu begründen. Es bezeichnet den Triumph des Sinnlichen», heisst es im «Sisyphos». In diesem Sinne verzichte ich hier darauf, mit dem Verstand die konkrete Situation der Pandemie mit immer neuen Zahlen und Fakten zu beschreiben und zu hinterfragen. Ich folgte dem «Triumph des Sinnlichen», der in den Sinnen den Sinn sucht. Vielleicht hilft dieser Weg, zu dem uns die Belletristik einlädt, auch in der Corona-Zeit, Aktuelles neu zu sehen, indem wir andere Perspektiven einnehmen und Abstand halten – nicht nur mit «Social Distancing», sondern auch mit «Facts Distancing».
Teil 2 erscheint demnächst und stellt Bücher von Antoine de Saint-Exupéry und nochmals José Saramago vor.