Wiedergelesen: Erich Fromm «Über den Ungehorsam»
(c) Furche.at
«Erich Fromm formulierte in diesen Essays, was es heisst, der eigenen menschlichen Natur und dem Ziel einer humanen Gesellschaft gegenüber gehorsam zu sein, und was es heisst, allen Arten von Idolen und politischen Ideologien gegenüber ungehorsam zu sein.» Das schrieb Fromms Frau Annis 1984.
In medias res
«Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird.» Erich Fromm spielt mit diesem Zeit und Raum umspannenden Satz auf zwei Mythen an. Der erste, der hebräische Mythos, der das Alte Testament einleitet, ist jener von Adam und Eva: «Als Adam und Eva noch im Garten Eden lebten, waren sie ein Teil der Natur; sie standen in voller Harmonie mit ihr und transzendierten sie noch nicht. Sie befanden sich in der Natur wie der Embryo im Mutterleib. Sie waren Menschen und gleichzeitig waren sie es noch nicht. All das änderte sich, als sie einem Gebot nicht gehorchten. Dadurch dass der Mensch seine Bindung an die Erde und Mutter löste, dass er die Nabelschnur durchtrennte, tauchte er aus der vormenschlichen Harmonie auf und konnte so den ersten Schritt in die Unabhängigkeit und Freiheit tun. Der Akt des Ungehorsams setzte Adam und Eva frei und öffnete ihnen die Augen. Sie erkannten, dass sie einander fremd waren und dass auch die Aussenwelt ihnen fremd, ja sogar feindlich war. Ihr Akt des Ungehorsams zerstörte die primäre Bindung an die Natur und machte sie zu Individuen.»
Und Fromm schliesst mit einer Folgerung, die christliche Moraltheologen bis heute bewegt: «Die Erbsünde hat den Menschen keineswegs verdorben, sondern setzte ihn frei; sie war der Anfang der Geschichte. Der Mensch musste den Garten Eden verlassen, um zu lernen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen und ganz Mensch zu werden.»
«Ebenso wie im alttestamentlichen Mythos von Adam und Eva geht auch im griechischen Mythos die gesamte menschliche Zivilisation auf einen Akt des Ungehorsams zurück. Dadurch dass Prometheus den Göttern das Feuer stahl, legte er die Grundlage für die Entwicklung des Menschen. Ohne das "Verbrechen" des Prometheus gäbe es keine Geschichte der Menschheit. Genau wie Adam und Eva wird auch er für seinen Ungehorsam bestraft. Aber er bereut ihn nicht und bittet nicht um Vergebung. Ganz im Gegenteil sagte er voll Stolz: "Ich möchte lieber an diesen Felsen gekettet als der gehorsame Diener der Götter sein."»
Der Sprung ins Hier und Jetzt
Geschrieben wurden die im Band «Über den Ungehorsam» vereinigten Essays um 1950. Nicht jedes Detail, doch die wichtigsten Aussagen haben auch heute ihre Gültigkeit. Fromms Sorge galt damals vor allem der krebsartigen Ausbreitung des Kapitalismus, der viele während Jahrhunderten entwickelten menschlichen Werte sukzessive zu zerstören begann. Einen dramatischen Höhepunkt bildete die weltweit verbreitete Angst vor einem Krieg, konkret die Kuba-Krise, bei welcher die Welt nur knapp einem Atomkrieg entkam. Damals wie heute gilt die Quintessenz: «Ungehorsam ist nicht nur die Voraussetzung für Freiheit – Freiheit ist auch die Voraussetzung für Ungehorsam.»
Indem Fromm den Ursachen des Kapitalismus nachging, schrieb er: «In der Geschichte des Menschen wurde meistens Gehorsam mit Tugend und Ungehorsam mit Sünde gleichgesetzt. Der Grund ist einfach: Bisher hat während des grössten Teils der Geschichte eine Minderheit über die Mehrheit geherrscht. Diese Herrschaft war deshalb notwendig, weil von den guten Dingen des Lebens nur für die Wenigen genügend vorhanden war und für die Vielen nur die Brosamen übrigblieben. Wenn die Wenigen die guten Dinge geniessen wollten und wenn sie darüber hinaus wollten, dass die Vielen ihnen dienten und für sie arbeiteten, so ging das nur unter der Voraussetzung, dass die Vielen lernten zu gehorchen.»
Um an zwei Figuren der neueren Weltgeschichte aufzuzeigen, wohin Gehorsam im Extremfall führen kann, hier Anmerkungen zu Hitler und Eichmann. Der eine war der einflussreiche, grössenwahnsinnige, seelisch kranke, mit einer einfachen Heilsbotschaft auftretende Adolf Hitler; der andere, der im Hintergrund wirkende, korrekt und perfekt seine ihm aufgetragene Aufgabe mit überzeugendem Gehorsam abarbeitende Adolf Eichmann. Welche Rolle dabei die Erziehung zum Gehorsam, also die Vorbereitung, ausgeführt von Staat und Kirche, spielen kann, wird in den folgenden Essays des Autors ausgeführt.
Die weiteren Essays
«Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie» war zeitlebens Fromms wissenschaftliches Postulat, das er mit Akribie und Fantasie verfolgte. «Marx diente die Analyse des Kapitals dazu, den verkrüppelten Zustand des Menschen in der Industriegesellschaft kritisch zu durchleuchten.» Konkret ging es um die «Erneuerung des marxistischen Humanismus», wofür er die psychologische Arbeit mit Einzelpersonen auf die Behandlung der Gesellschaft, also deren psychische Befindlichkeit, ausweitete und damit sich von seinem Lehrmeister Sigmund Freud entfernt hatte. «Meines Erachtens braucht der Marxismus eine solche psychologische Theorie und sollte sich die Psychoanalyse mit der marxistischen Theorie verbinden.»
Den Essay «Propheten und Priester» schrieb Fromm als Laudatio auf Bertrand Russel, dem er 1943 erstmals begegnet war. Doch der Text stellt im Kern eine nützliche Anleitung für jene Menschen dar, die die Aufgabe übernehmen, eine Botschaft zu vermittelt, indem er dies wie folgt charakterisiert: «Die Propheten leben ihre Ideen. Die Priester verwalten sie für diejenigen, die sich mit diesen Ideen identifizieren. Dabei verlieren die Ideen ihre Lebendigkeit und werden zu Formeln.» Mit dieser Unterscheidung können wir wohl auch bei eigenen Erfahrungen in der politischen Arbeit, aber nicht nur dort, verstehen, wie der eine oder andere, der schreibt oder predigt, glaubhaft ist oder bloss so scheint.
Im dritten Essay, «Zum Problem einer umfassenden philosophischen Anthropologie», engagiert sich der Autor für eine «Renaissance des Humanismus». Dafür charakterisiert er die humanistische Weltanschauung: «Sie ist erstens gekennzeichnet durch den Glauben an die Einheit der Menschheit, durch den Glauben, dass es nichts Menschliches gibt, das nicht in jedem von uns zu finden wäre; zweitens durch die Betonung der Würde des Menschen; drittens durch die Betonung der Fähigkeit des Menschen, sich weiterzuentwickeln und zu vervollkommnen; viertens durch die Betonung von Vernunft, Objektivität und Frieden.» Innerhalb dieser Parameter lotet Fromm dieses Feld intellektuell aus.
«Als die mittelalterliche Welt zerbracht, glaubte der westliche Menschen auf dem Weg zur endgültigen Erfüllung seiner kühnsten Träume und Visionen zu sein. Er befreite sich von der Autorität einer totalitären Kirche, von der Last traditionellen Denkens und von den geografischen Schranken unserer erst zur Hälfte entdeckten Erde. Er entdeckte die Natur und das Individuum. Er wurde sich seiner eigenen Kraft und seiner Fähigkeit bewusst, sich zum Herrscher über die Natur und die Tradition zu machen. Er glaubte an eine Synthese zwischen seinem neugebornen Gefühl der Kraft und Rationalität und den spirituellen Werten seiner humanistisch-geistigen Tradition, zwischen prophetischer Idee einer messianischen Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit, wie sie die Menschheit im historischen Prozess erreichen könnte, und der griechischen Tradition theoretischen Denkens.» Mit diesen Worten beginnt Fromms Essay «Den Vorrang hat der Mensch!».
«Der Sozialismus will nicht nur die Mängel des Kapitalismus beheben, sondern etwas verwirklichen, was es noch nicht gibt. Er hat ein Ziel, das die empirisch gegebene gesellschaftliche Realität transzendiert, jedoch auf realen Möglichkeiten beruht. Sozialisten sagen: Dies hier wollen wir, dafür kämpfen wir – nicht weil es die absolute und endgültige Form des Lebens ist, aber weil es eine bessere und menschlichere Lebensform ist. Wir wollen die Verwirklichung der Ideale des Humanismus, von denen die grössten Errungenschaften der westlichen und östlichen Kultur inspiriert wurden.» Davon abgeleitet, erläutert Fromm Prinzipien und Ziele eines Weges zum Sozialismus.
Die Diskussion über das «Garantierte Einkommens für alle» wird heute und wohl noch lange in verschiedenen Ländern wissenschaftlich und praktisch, politisch und wirtschaftlich intensiv geführt. Da mag es erstaunen, dass Fromm bereits 1966 einen fundierten und höchst differenzierten Beitrag dazu verfasst hat, der, ernsthaft zur Kenntnis genommen, auch heutige Auseinandersetzungen bei uns befruchten könnte. Ich enthalte mich hier einer Zusammenfassung, sie wäre zu differenziert. Doch so viel kann vorweggenommen werden: Das Thema sollte nicht monothematisch, sondern muss multithematisch angegangen werden, soll es Erfolg haben.
Den Band beschliesst der Essay «Zur Theorie und Strategie des Friedens»: «Ich glaube, dass die Chancen für den Frieden sehr gering sind. Aber ich glaube ebenso sehr: Sofern es sich um das Leben des Einzelnen oder der Gesellschaft handelt, muss man handeln und planen, solange es überhaupt noch eine reale Möglichkeit dafür gibt. Ich glaube also, dass es diese reale Möglichkeit noch gibt, obwohl wir im besten Fall zu einem Remis und zu einer Periode kommen, die uns eine Atempause gibt, für solche Massnahmen, die zu einem wirklichen Frieden führen können, weil sie auf wirklichen Änderungen im Menschen und in der Gesellschaft beruhen. Es ist schwer, mit diesem Paradoxon der Hoffnung zu leben, aber das ist meiner Meinung nach für uns alle die einzige Möglichkeit.» – Persönlich verbitte ich mir eine Einschätzung der aktuellen Weltlage bezüglich Krieg und Frieden und schliesse mich Martin Luther an: «Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.»
Erich Fromm: Über den Gehorsam, New York 1981, Deutsch Verlags-Anstalt 1982