Der Film im Alterstreffpunkt

Auch heute gehört der FiIm zu den beliebtesten Massenmedien der Betagten: Im Kino, im Fernsehen oder im Alterstreffpunkt. Bei den folgenden Überlegungen steht der Alterstreffpunkt im Vordergrund; denn dort besteht mehr als in den übrigen Bereichen die Möglichkeit der Mitgestaltung und der Einflussnahme durch die alten Menschen selbst. Das Grundsätzliche gilt sinngemäss auch für Kino und Fernsehen.

Der Film ist ein Mittel. das im Zuschauer einen Kommunikationsprozess in Gang setzt. Verglichen mit der personalen Kommunikation, dem Gespräch beispielsweise. ist dieses technische Medium jedoch ein-wegig. In der Unmöglichkeit der Rückkoppelung, das heisst des Antwort-Gebens, beruht eine grundsätzliche Problematik des FiIms, aber auch der anderen Medien. Betrachtet man die Situation etwas genauer. dann drängen sich einem die folgenden Fragen auf:

A. Was macht der Film mit uns Zuschauern?

B. Was können wir Zuschauer mit dem Film machen?

A. Was macht der Film mit uns Zuschauern?

1. Alte Menschen, wie übrigens auch Kinder und Jugendliche, nennen als erstes, was der Film ihnen gibt oder geben kann. die Unterhaltung. Sicherlich darf von einem legitimen Unterhaltungsbedürfnis des Zuschauers ausgegangen werden. Unterhaltung kann so etwas wie eine geistig-seelische Lockerung sein, vergleichbar mit der Gymnastik im körperlichen Bereich. Unterhaltung kann auch so etwas wie Einatmen sein, ohne das es kein Ausatmen gibt. Unterhaltung durch Medien, zum Beispiel Filme, kann man aber auch als Konsumieren, analog dem Essen, verstehen. – Hier aber werden Probleme sichtbar: Unsere Essgewohnheiten sind nicht mehr ursprünglich und gesund. Ein Überangebot, die Werbung und seelische Mängel oder Deformationen haben uns teilweise verdorben. Ähnlich kann es mit dem Filmkonsum gehen. Zur Unterhaltung gehört im Weiteren, dass wir während des Films gleichsam weg, ausserhalb der konkreten Wirklichkeit sind. Und solches Aussteigen kann gelegentlich zur Flucht werden. welche ein Zurückkehren ins wirkliche Leben schwierig macht.

2. Sobald man jedoch bei alten wie bei jungen Kinokonsumenten eingehender nachfragt, erfährt man auch eine Reihe anderer Dinge, die der Film zu geben vermag. Er kann neue Erfahrungen vermitteln: durch sie können wir Neues kennen lernen. Es mögen dies fremde Welten sein, die man früher nie bereisen konnte oder die man bereits kennt. Es können dies Pflanzen und Tiere sein, denen man neu begegnet, oder Menschen, mit denen man auf diese Weise in Kontakt tritt. – Auch dieser Möglichkeit des Films wohnt gelegentlich eine Gefahr inne. Nämlich die, dass einem das Fernsehen die Ferne nah zeigt, dass einem darob das Nah fern, das Nächste fern wird. Ich spiele in der Formulierung auf das Hauptgebot an, in dem vom Nächsten die Rede ist.

3. Oft wollen Betagte vom Film nochmals etwas anderes. Das Zelluloid, das Bilder und Töne über Jahrzehnte festhält, vermag Vergangenheit Gegenwart werden zu lassen. Während der neunzig Minuten Filmdauer geschieht nochmals, was früher geschehen ist. kann Vergangenheit nochmals miterlebt, gelebt werden. Dadurch kann ich in meine Vergangenheit zurückkehren, in ihr mich ergehen, schwelgen, träumen. Dies dürfte gerade für ältere Menschen gelegentlich ein tiefes Bedürfnis sein, wenn sie gegen das eine Ende des Lebensbogens kommen, nochmals zum andern zurückkehren. – So schön dies ist, gibt es dabei auch Klippen. Ähnlich wie die Flucht in die Ferne. gibt es die Flucht in die Vergangenheit. Und sollte diese exzessiv gegangen werden, wird dem alten Menschen die Gegenwart fremd, lebt er kaum mehr in ihr, gestaltet er sie nicht mehr. Das heisst, er gibt sie und damit sich selbst auf.

4. Wie Musik kann auch der Film ein weiteres Grundbedürfnis befriedigen: einfach zu geniessen, im Hier und Jetzt Freude und Glück erleben. Dies mag etwa geschehen durch schöne Landschaften, Blumen, aber auch durch den gesprochenen oder gezeichneten Witz, eine Ballettdarbietung, eine bezaubernde Musik oder ein schönes Gemälde. All dies ist dem Film möglich. Filme solchen Inhalts haben keinen Zweck ausser sich selbst, sie sind sinnvoll an sich. Was nach solchen Filmen bleibt, ist ein leises Lächeln auf den Lippen, Heiterkeit im Gesicht, Befriedigung im Gemüt. – Jedermann/jedefrau hat wohl schon erlebt, dass dabei eine Steigerung möglich ist, wenn diese Erlebnisse gemeinsam mit andern Menschen gemacht werden. Denn es gilt nicht nur, dass geteiltes Leid halbes Leid ist, auch geteilte Freude ist doppelte Freude.

5. Doch Filme können auch Hilfsmittel sein, um neues Wissen zu erwerben. So kann die Gewohnheit, Filme in der Originalsprache anzusehen respektive anzuhören, helfen, eine Sprache. die man einmal gelernt hat. lebendig zu erhalten und den aktiven Wortschatz zu vergrössern. Wir können uns mit Informationsfilmen, wie sie vor allem das Fernsehen anbietet. die Gebiete auswählen, über welche wir mehr wissen wollen. Geistiges Wachsen erhält jung und lebendig. – Zu bedenken gibt es jedoch, dass Medien. die diese Erfahrungen bringen, nicht direkte, Primär-Erfahrungen, sondern vermittelte, gestaltete (das kann auch heissen: manipulierte) Sekundär-Erfahrungen vermitteln. Dieses kritische Bewusstsein ist gerade dann wichtig, wenn wie im Alter die Möglichkeiten der primären Erfahrungen schwinden.

6. Sicherlich haben wir alle, ob alt oder jung, genug eigene Probleme. Immer wieder erleben wir jedoch, dass wir auch für uns selbst profitieren, wenn wir Anteil nehmen an den Problemen anderer. Dies kann bei Filmen im so genannten Probehandeln geschehen: Während wir einen Film sehen, leben wir sozusagen das Leben derjenigen Person im Film, mit der wir uns am meisten identifizieren. Probehandeln besagt, dass wir probeweise etwas tun, was wir in Wirklichkeit vielleicht noch nie getan haben, dass wir es im Film üben, dass wir es im wirklichen Leben dann besser können. Eine herrliche Chance zur Verbesserung unserer Lebensqualität! – Dass wir uns jedoch stets dieser künstlichen Situation bewusst sein sollten, ist klar: Es ist nicht wirklich, was wir in Spielfilmen sehen, es sind Bilder und Phantasien, die möglich, aber nicht wirklich sind! Meine eigene Wirklichkeit und der Film mit seinen Abbildern der Wirklichkeit sind zwei Dinge.

7. Ich kann auf «Geheiss» des Films eine Situation durchleben, wie der Film es von mir verlangt, wie er mich gelegentlich zwingt. Ich kann das im Film Gezeigte in Beziehung setzen zu dem, was bereits in mir ist. Es gibt eine Auseinandersetzung. In der Auseinandersetzung mit einem Film nehme ich sowohl den Film als auch mich selbst ernst. Es entsteht so etwas wie ein Dialog, ein Gespräch zwischen Film und mir.

B. Was können wir Zuschauer mit dem Film machen?

 Ein Film kann – wie wir im ersten Teil gesehen haben – mit uns sehr viel machen: Er kann uns mit Informationen überschütten oder mit Gefühlen überfluten. In der Massierung der vielen an sich guten Dinge kann er uns erdrücken. Wir können, indem der Film mächtig und mächtiger wird, selbst ohnmächtig werden. Damit wir aber stets die Lage beherrschen, müssen wir selbst etwas tun. Was, das zeigen die folgenden Punkte:

8. Um der Gefahr, überschüttet zu werden, zu entgehen, müssen wir zuerst einmal aktiv auswählen. Wir sagen, was wir wollen! Nicht andere haben für uns zu entscheiden! Bezüglich des Films im Seniorentreffpunkt sollte man soweit kommen, dass die betagten Zuschauer nicht «ins Kino», sondern «in einen Film» gehen. Das heisst, dass sie sich nicht an einem bestimmten Tag und Ort überraschen und berieseln lassen, sondern dass sie wählen, was sie sehen möchten. Denn nicht alles, was angeboten wird, entspricht den Bedürfnissen von jedermann/jederfrau. Aktiv auswählen heisst: Sich fragen, ob die eigenen Bedürfnisse wirklich mit diesem Film befriedigt werden. Es ist dies eine Haltung, die selbstverständlich nicht nur für den Medienkonsum gilt.

9. Doch auswählen kann man nur, wenn man informiert ist: über seine Bedürfnisse - das verlangt Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis - und Wissen über den Film und seinen Inhalt, seine Aussage und seine Form. Diese Vororientierung ist schwer umfassend zu bekommen. Doch wo ein Wille, da ist auch ein Weg. Wenn ich wirklich wissen will, was hinter einem bestimmten Titel einer Fernsehsendung steckt, kann ich mich im Programmteil der Tageszeitung oder besser noch in einer Radio- und Fernsehzeitschrift informieren. Wenn ich wissen will, wovon ein Kinofilm handelt, schaue ich in der Tageszeitung nach einer Kritik oder greife zu einem Fachorgan. Wenn ich mir nichts unter dem Titel oder dem Kurzbeschrieb des Films, der in einem Seniorentreffpunkt gezeigt wird, vorstellen kann, frage ich dort an und gebe nicht auf, bis ich eine befriedigende Auskunft erhalte.

10. Wenn wir einen Freund, eine Freundin besuchen, den oder die wir lange nicht gesehen haben, bereiten wir uns auf dieses Ereignis vor: Wir planen die Reise, wir besorgen ein kleines Geschenk, wir richten uns her, wir stimmen uns ein. All das erhöht die Vorfreude einer persönlichen Begegnung. Auch ein Film kann ein solches Ereignis sein, auf das es sich lohnt, sich vorzubereiten: durch Einführung und Einstimmung. Handelt es sich um die Verfilmung eines Romans oder eines Theaterstückes, so kann ich die Vorlage heranziehen. Vielleicht gibt es auch etwas über das Werk zu lesen. Wie bei der Einstimmung auf einen Besuch, kann ich mich auch auf einen Film einstimmen: Ich kann mich schon vorher damit beschäftigen, mir Gedanken zum Thema machen, frühere Erfahrungen dazu lebendig werden lassen. Ich kann mich auch einstimmen, indem ich mir vorher einen Zeitraum ausspare, nicht vom einen zum andern hetze, sondern eine ruhige Minute auf einem Bänklein oder in einem Café dafür reserviere.

11. Wenn wir mit einer solchen Einführung und Einstimmung einen Film sehen, dann ist es leicht möglich, dass er zu einem starken Erlebnis wird. Denn wir sind vorbereitet, um aktiv erleben zu können. Wir kommen mit einer seelisch-geistigen Offenheit an den Film heran. Das heisst weder unkritisch noch distanziert, sondern als ganzer Mensch mit Kopf und Herz. Auch hier ist es wie bei einer persönlichen Begegnung. Sie kann uns tief bewegen und bereichern. – Das hängt nicht allein vom Film ab, sondern auch von mir. Vielleicht gelingt es uns sogar im Laufe der Zeit in der Selbsterfahrung so weit zu kommen, dass wir auch während eines Films wahrnehmen, was in uns drin – nicht nur auf der Leinwand vor sich geht. Ich persönlich finde: Die neunzig Minuten eines Films können ein erregendes Ereignis sein.

12. «Wessen das Herz voll ist. dem geht der Mund über», heisst ein Bibelwort. Dies gilt für Erfahrungen, die wir mit Menschen, mit Ereignissen, mit Dingen machen. Ich glaube. dass es unverändert auch für den Film Gültigkeil hat. Wenn es hell wird nach der Vorführung und ich wieder langsam in den Alltag zurückkehre, verspüre ich vielleicht das spontane Bedürfnis zu sprechen. Oft möchte ich nur einige Worte sagen, gelegentlich einen Begeisterungsausspruch machen oder meine Empörung los werden. Gemeint ist nicht ein systematisches Filmgespräch, sondern ein Filmerlebnis-Gespräch. Das heisst, man gibt von sich, was einen gerade nach dem Filmsehen bedrängt. Es geht um ein Abreagieren oder um die Verarbeitung dessen, was in den neunzig Minuten in einem drin geschehen ist. Bei einem solchen spontanen Gespräch ist nichts, was man sagt, «richtig» und nichts «falsch». Es gilt. ernst zu nehmen. dass wir alle verschieden wahrnehmen und erleben. Dies machen zu können tut gut. wenn der Film Beklemmung und Angst ausgelöst hat.

13. Oft, nicht immer, entwickelt sich aus solchen spontanen Äusserungen ein eigentliches Filmanalyse-Gespräch. Dazu braucht es indes Freiraum: genügend Zeit und einen Ort. der sich eignet, eine förderliche Atmosphäre und eine Gruppe Interessierter. Jetzt, im Filmanalyse-Gespräch geht es darum, gemeinsam zu erarbeiten, was der Film «an sich» aussagen wollte, sich zu fragen, wie das gemacht wurde, und dazu Stellung zu beziehen. Es geht darum, die Einsichten, Erkenntnisse. Erfahrungen und Entdeckungen zusammenzutragen. zu vergleichen und argumentierend das herauszuarbeiten, was jenseits unserer subjektiven Wahrnehmung im Film gezeigt wurde. Darum gilt es, sich mit den Einsichten, Erkenntnissen. Erfahrungen und Entdeckungen der anderen in Beziehung zu setzen, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen und sich ein Urteil zu bilden: mit Hilfe der andern. für sich und die andern.

14. Ein Film kann – wie am Anfang gesagt wurde – einen Prozess auslösen, in uns drin etwas in Gang setzen. Das kann etwas rein Geistiges sein: Wir denken jetzt über etwas so oder so; wir haben jetzt über etwas anderes diese oder jene Gefühle; oder es kann zu einem Handeln führen. Ich beginne, etwas zu tun. Ich kann es bloss nachmachen oder kann mich selbständig dazu entscheiden. In vielen Fällen ist das durchaus die Absicht, die hinter dem Film steht. Denn Filme werden ja von Menschen gemacht, die ebenfalls ihre Ziele verfolgen, die oft beabsichtigen, andere Menschen die gleichen Ziele anstreben zu lassen.

Was soll jetzt geschehen?

Diese Gedanken sollen niemandem den FiIm «verkomplizieren» und damit vermiesen. Im Gegenteil. sie sollen helfen. dass man den Film noch intensiver nützt, ihn voll ausschöpft, dass jedermann oder jedefrau auf seine oder ihre Rechnung kommt, dass der Film einem wirklich dient.

Wir, die Betagten, und wir, die Leiter von Altersveranstaltungen, sollen zusammensitzen und diskutieren. was unsere Wünsche und unsere Bedürfnisse sind. Wenn dies geschehen ist, sind Wege zu suchen, dass diesen Bedürfnissen und Wünschen entsprochen wird. Und dies alles soll Zukunftsperspektiven haben, was auch heisst, dass es in einer Zukunft möglich sein wird. in welcher es vielleicht an Geld und Betreuern in die Altersarbeit mangeln könnte.