Filme im Gespräch: im Filmzirkel
Seit einem Jahr gibt es im Zentrum Karl in Zürich an jedem ersten Montag des Monats den Filmzirkel: ein offenes Gespräch über einen anspruchsvollen Film des aktuellen Kinoprogrammes.
Die Antworten einer der Gründerinnen des Filmzirkels auf Fragen des Seniorweb und die Antworten eines Moderators auf Fragen des Filmzirkels informieren, was der Filmzirkel will und wie er funktioniert.
Fragen des Seniorweb an Katrin Schulthess, eine Mitbegründerin
Wie kam es zur Idee des Filmzirkel?
Im Rahmen eines Ausbildungstages beim Netzwerk Innovage wurden wir Teilnehmenden aufgefordert, in einem Brainstrorming Ideen für eigene Projekte im sozialen oder kulturellen Bereich aufzuzählen. Mir kam die Idee «Filmgespräche» und ich fand damit grosse Zustimmung. Jahre zuvor hatte ich an einem solchen Filmgespräch teilgenommen. Es war die letzte Ausgabe des «Zürcher Filmtreffs», den der Filmemacher Urs Graf über Jahre geleitet hatte. Die Idee stammt also nicht von mir. Ich dachte mir, dass wir so etwas wieder aufleben lassen könnten.
Welche Ziele wolltet ihr erreichen?
Von Anfang an schwebte uns ein Ort vor, an welchem regelmässig und öffentlich über aktuelle Filme diskutiert werden kann. Es sollte ein Treffpunkt für Filminteressierte werden, wo Kinoerlebnisse mit andern besprochen und analysiert werden können. Wie in Lesezirkeln Menschen zusammen über ein Buch diskutieren, das sie zuvor gelesen haben, so sollte es analog mit dem Medium Film geschehen. Anstelle des bloss passiven Konsums wollten wir die aktive Auseinandersetzung mit dem Medium Film fördern.
Wie seid ihr vorgegangen?
Zu Beginn trafen wir uns zu Dritt in einem Café und sondierten unsere z. T. sehr unterschiedlichen Vorstellungen. Nach personellen Wechseln in der Gruppe starteten wir (vier Frauen, ein Mann) Ende 2011 mit dem Projektbeschrieb. Mit diesem und einem Budgetplan begann die mühsame Suche nach Sponsoren und der Finanzierung durch Stiftungen. Die Gründung unseres Vereins Filmzirkel Zürich erfolgte am 1. Juli 2012. Nun stand die Suche nach einem geeigneten Raum und geeigneten Moderatoren an. Gleichzeitig erstellte ein Teammitglied unsere Webseite und wir erarbeiteten eine Art Werbekonzept. Pünktlich auf Oktober konnten wir starten.
Welche Probleme stellten sich euch?
Am Anfang waren es viele. Personelle Wechsel stellten ein Weiterkommen immer wieder in Frage. Da wir als Pensionierte nicht mehr in frühere Stresssituationen kommen wollten, war die unsere zeitliche Verfügbarkeit stark eingeschränkt. Ein weiteres Problem, bekanntes in der Arbeit als Freiwillige, war auch bei uns die Verbindlichkeit. Es brauchte Zeit, bis wir unsere Rollen im Team gefunden und die Aufgaben untereinander verteilt hatten. Ein persönliches Problem für mich war meine Rolle als Projektleiterin und gleichzeitig Präsidentin des Vereins. Zeitweise war ich damit überfordert.
Welche Vision habt ihr für die Zukunft?
... dass sich der Filmzirkel finanziell halten kann, dass er sich in der Zürcher Kulturszene etabliert und dass wir mit unserem Konzept den Teilnehmenden weiterhin spannende und erhellende Filmdiskussionen ermöglichen.
Fragen von Katrin Schulthess an den Moderator Hanspeter Stalder
Wie siehst du deine Rolle als Moderator im Filmzirkel?
Bei der Vorpremiere des Films «Ginger & Rosa» hat sich die Regisseurin Sally Potter beim Publikum gedankt, dass es ihr helfe, den Film zu verstehen. Diese unerwartete Aussage einer bekannten Filmemacherin hat eine alte Überzeugung bestätigt: Der Regisseur macht die eine Hälfte des Films, das Publikum die andere. Das heisst, um einen Film möglichst gut zu verstehen, braucht es unsere Mittun, am besten derjenige einer ganzen Gruppe. Meine Aufgabe als Moderator ist, die verschiedenen Wahr-Nehmungen des Films zu bündeln.
Wie bringst du die Teilnehmenden, die sich nicht kennen, zum Reden?
Ich hole sie bei ihrer Unsicherheit, ihren Fragen, Freuden oder Enttäuschungen, ihrer Betroffenheit ab. Dabei hoffe ich, dass meine Haltung spürbar wird, dass wir nicht objektiv, sondern subjektiv sind. Wir sehen und hören aus bestimmten Gründen selektiv. Jede und jeder hat eigene Vorlieben, Wünsche, Hoffnungen, Abwehren, verschiedene Welt- und Menschenbilder.
Welche Probleme stellen sich dir als Moderator?
Schwierig kann es werden, wenn jemand meint, alles zu wissen, und damit die andern blockiert. Dann hole ich möglichst bald andere Meinungen aus der Gruppe ein. Schwierig kann es auch werden, wenn Leute sich nicht trauen, weil sie meinen, etwas Falsches zu sagen. Doch das macht wir wenig Sorge. Im Lauf des ersten Jahres ist in der Gruppe eine Basis des Vertrauens entstanden.
Nach welchen Prinzipien gestaltest du einen Abend im Filmzirkel?
Ich gehe vom Ich der Anwesenden aus: Was hat gefallen? Missfallen? Was hat mich berührt? Geärgert? Welche Bilder, Sätze, Szenen sind geblieben? Oder ähnlich. Ich kann aber auch mal von einem Ausschnitt des Filmes oder von Informationen zum Film ausgehen, um so den Film in den Raum zu holen. Wichtig ist, dass der Einstieg ins Gespräch die Leute berührt und animiert, sich auszutauschen.
Was ist dein persönliches Anliegen im Filmzirkel?
Im Sinne von Martin Buber geht es mir darum: 1. mit Hilfe der andern den Film zu verstehen, 2. mit Hilfe des Filmes die andern. Und ergänzen möchte ich dies mit der Forderung von Thomas Hora: «Um sich selbst zu verstehen, muss man von einem andern verstanden werden. Um vom andern verstanden zu werden, muss man den andern verstehen.» Ein Gleichgewicht dieser drei Dimensionen zu erreichen, ist mein Ziel.
Nach welchen Kriterien werden Filme für die Diskussion ausgewählt?
Die Filme müssen sich für ein Gespräch eignen, d. h. dürfen nicht banal und selbstredend sein. Sie sollen beim Publikum positiv oder negativ etwas auslösen und mehrere Interpretationen zulassen. Am schönsten sagt das, was ich anstrebe, Dschaelal ed-din Rumi, der berühmte Sufi-Meister aus dem 13. Jahrhundert: «Die Wahrheit ist ein Spiegel, der vom Himmel gefallen ist, er ist in tausend Stücke zersplittert, jeder besitzt einen kleinen Splitter und glaubt, die ganze Wahrheit zu besitzen.»
Kannst du ein paar Beispiele nennen?
Den Film «Vous n’avez encore rien vu» von Alain Resnais verstanden nur wenige, doch berührte er sie mit seiner Schönheit, bis das Gespräch zu mehr Verständnis verhalf. «Rashomon» von Kurosawa führte in eine fremde Welt, was faszinierte, sobald man Stück um Stück zu verstehen begann. «Sagrada» von Stefan Haupt öffnete sich und entschlüsselte seinen Reichtum mit dem Fortgang des Gespräches. Und bei «Rosie» von Marcel Gisler öffneten sich im Austausch der Meinungen und Wahrnehmungen die Facetten des Lebens einer alten Frau.
Weitere Auskünfte über den Filmzirkel und die Möglichkeit, sich anzumelden, gibt es auf der Website www.filmzirkel.ch.
Fotos: Marianne Bettschen