Postulate von Betagten an die Massenmedien

Gleich zu Beginn erhebt sich die Frage: Wer stellt hier eigentlich Forderungen? Wer sind die Betagten? Wie werden die Postulate formuliert? Ich selbst bin Medienbeauftragter am Zentralsekretariat von Pro Senectute Schweiz. Bin ich - oder wie bin ich - legitimiert, für Betagte zu sprechen? Genauer betrachtet ist die Fragestellung doppelt:

1. Darf man überhaupt von den Betagten sprechen?
2. Welches sind die realen Möglichkeiten betagter Menschen, sich den Medien gegenüber, sich in den Medien zu äussern?

Zur ersten Frage: Von der Geragogin Julie Winter habe ich den Gedanken, dass es unter hundert Betagten mehr Verschiedenartigkeiten gibt als unter hundert Kindern. Und dennoch hört man im Rahmen der Altersarbeit nur allzu häufig Formulierungen wie: Das wollen die Alten; so denken die Senioren; so sind die Betagten. Deshalb meine ich, haben wir von einer Vielfalt von Betagten auszugehen.

Selbst wenn es statistische Untersuchungen über das Medienverhalten der Betagten gibt, so ist damit noch nicht erforscht, welches deren Forderungen an die Medien sind. Bei Umfragen über den Medienkonsum wird doch immer nur von dem ausgegangen, was ist. Innovative Postulate, fussend auf echten Bedürfnissen, werden kaum je in Rating-Tabellen erbracht. Bei Untersuchungen über Vorlieben bei der Mediennutzung wird lediglich der Status quo eines bestimmten Mediums zementiert und durch Hervorheben der Spitzenreiter und Unterschlagen der Schlussränge oft eine nivellierende Wirkung erzielt.

Zur zweiten Frage: Mit Bestimmtheit muss festgehalten werden: Es gibt keine repräsentative und offizielle Vertretung der Betagten vis-à-vis der Massenmedien. Es gibt kaum Senioren, welche sich systematisch mit den Medien beschäftigen. Es gibt beispielsweise keine offizielle Vertretung der Betagten – ebenso der Kinder – in den Fernseh-Trägerschaften. Es bestehen meines Wissens auch nur wenige länger dauernde informelle Kontakte zwischen Betagtengruppen und den Medienschaffenden. Ich kenne lediglich einige Pilotgruppen, die in bescheidenem Rahmen eines der Massenmedien zum Thema ihrer Arbeit gewählt haben. Etwa die Zürcher Arbeitsgruppe «Die Senioren und das Fernsehen», die regelmässig über die Alterssendungen im Fernsehen diskutiert, Stellung bezieht in Leserbriefen und in schriftlichen und mündlichen Antworten an die TV-Verantwortlichen und beginnt. eigene Ideen und Konzepte für neue Sendungen zu entwickeln.

Wenn ich im Folgenden dennoch versuche, einige Forderungen aufzustellen. so stammen diese zwar von einem Vierzigjährigen, der jedoch während mehr als drei Jahren Gelegenheit hatte, in der erwähnten Gruppe die Betagten eigene Forderungen aussprechen zu hören.

Forderungen an die Printmedien


Die häufigsten Klagen betagter Menschen an Druckerzeugnisse wie Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Prospekte lauten: Ich kann es nicht lesen, die Schrift ist zu klein. Dies müssen die Herausgeber von Texten, welche (auch) für Betagte bestimmt sind, zur Kenntnis nehmen. Viele tun das, ausdrücklich etwa jene Buchverlage, welche spezielle Grossdruckbücher produzieren. Denn Mühe haben beim Lesen, darf nicht bloss als zusätzliche Erschwernis bei der Informationsaufnahme verstanden werden. Es kann Ärger, Stress, Frustration erzeugen, welche positive Kommunikation grundsätzlich verunmöglichen.
Bei Printmedien stellt sich wie bei den andern Medien immer wieder die grundsätzliche Frage: Braucht es Zielgruppenpublikationen, also speziell für Senioren geschaffene Presseerzeugnisse? Oder soll man mit Texten, welche auch die alten Menschen interessieren, in die allgemeine Presse hinein? Spontan und für den Moment glaube ich, muss diese Frage mit «sowohl als auch» beantwortet werden. «Entweder oder» wäre unrealistisch, vielleicht auch utopisch.

Postulate zu Kino und Schmalfilm


Die meisten Betagten schätzen es, deutsch gesprochene oder zumindest synchronisierte Filme zu sehen. Mit dem Lesen von Untertiteln haben viele Mühe. Dies mag den Cinephilen missfallen, die durch Synchronisation die Authentizität des Filmwerkes zerstört sehen. Wo jedoch Untertitel verwendet werden, wünschen Betagte, dass sie, wenn möglich, länger stehen bleiben als gewöhnlich und in einer möglichst leserlichen Schrift und Farbe gesetzt sind. Diese Anregungen sollten vor allem bei Filmen berücksichtigt werden, bei weIchen man auch mit einem Senioren-Publikum rechnet.

Auf Grundsätzliches verweisen mich Erfahrungen mit Filmen in Seniorentreffpunkten. Ich glaube. dass in Zukunft Filme noch vermehrt eingesetzt werden können: als kreative Kommunikation oder als soziale Animation. Vorausgesetzt sei lediglich, die Programmation und die Präsentation geschehen mit dem nötigen Sachverstand und der erforderlichen Fachkenntnis. Die mir bekannten schlechten Erfahrungen waren meist auf vermeidbare Fehler der Programmation und Präsentation zurückzuführen. Wie die Pädagogik erkannt hat. dass das Fernsehen ein schlechter Babysitter ist, so hat die Geragogik zu lernen, dass Filme mehr als ein «Betagten-Hütedienst» sein können. Dies zu lernen gehört in die Aus- und Weiterbildung derjenigen, die Altersarbeit betreiben. Hilfreich in Bezug auf den Kinofilm, der sich für Betagte eignet, könnten informative Hinweise in der Seniorenpresse oder in den Seniorensendungen von Radio und Fernsehen sein.

Forderungen an Radio und Fernsehen


Unter den spärlich publizierten Quellen, die Auskunft über die eigenen Programmvorstellungen der älteren Zuschauer geben, befindet sich auch ein von einer Arbeitsgruppe beim 8. Bundeskongress der älteren Generation, am 12. Mai 1980 in Essen, erarbeitetes Papier, das sich mit dem Verhältnis der älteren Menschen zu den Medien befasst. Es beruft sich auf eine Fragebogenaktion vom Spätsommer 1979 unter einzelnen älteren Bürgern und organisierten Gruppen älterer Bürger. Das Schwergewicht der dort erfragten Beanstandungen bei den Massenmedien lag im Bereich des Fernsehens, wo insbesondere ungünstige Sendezeiten für Ältere und die zu negativen bzw. falschen Darstellungen des Alters im Medium beklagt wurden. Bei den Verbesserungsvorschlägen, die die Arbeitsgruppe machte, lag die Forderung nach mehr und verständlicher Information an erster Stelle, aber auch der Wunsch nach mehr gezielter und praktischer Lebenshilfe erzielt einen hohen Rang. Wiederholungen, vor allem der Seniorenprogramme im Vormittagsprogramm werden gewünscht, weil ihr nachmittäglicher Sendeplatz als zu ungünstig empfunden wurde. Kritisiert wurde auch explizit die Darstellung alter Menschen in Fernsehspielen. die «diskriminierend und fernab der Wirklichkeit sei». Soweit Brigitte Knott-Wolf in Funk-Korrespondenz, 24/15/1982.

Wie vieles von dieser Kritik auch hier und heute gilt, müsste in breiten Betagtenkreisen diskutiert werden. Dabei ist aber zu berücksichtigen, was die Autorin weiter schreibt: «Nun dürften zwischen den Programmvorstellungen engagierter Gruppen älterer Zuschauer, wie sie zuletzt zur Sprache kamen, und dem älteren «Normal-Zuschauer», dem die Medienforschung auf der Spur ist, die gleichen Differenzen klaffen wie zwischen anderen engagierten Zuschauergruppen und dem «Otto Normalverbraucher» auch. Ebenso dürften die beobachteten Unterschiede zwischen den geäusserten Interessen und den wirklichen Bedürfnissen und Wünschen nicht spezifisch nur für ältere Zuschauer sein, sondern für alle zutreffen.»

Exkurs 1: Ton- und Bildaufzeichnungen


Dass die Sendungen von Radio und Fernsehen heute bereits gelegentlich, doch in der Zukunft noch vermehrt, auf Kassetten aufgenommen werden können, bietet auch Betagten neue Möglichkeiten. Ich will mich hier nicht für den Video-Bigbusiness einsetzen, sondern für ein technisch einfacheres und finanziell billigeres Medium verwenden: die (selbst bespielte) Tonkassette. Zum Beispiel mit dem Musik-Wunschkonzert, welches man aufnimmt und zu einer im Altersheim passenden Zeit abspielen kann. Oder mit dem Vortrag, den man als Basis für einen Kurs im Alterstreff nehmen will. Oder mit Hörspielen, welche man mit anschliessender Diskussion zu einem Zeitpunkt und in einem Rahmen vorführen kann, der einem passt.

Ich meine, dass gerade das Hörspiel für die Betagten – und nicht nur für diese! – noch zu entdecken ist. Ich glaube, dass hier ohne grossen Aufwand ein grosser kommunikativer Wert zu erbringen ist, wenn man diesen nur anstrebt und entsprechend handelt.

Exkurs 2: Videoarbeit mit Betagten


Von engagierten Betagten, welche zwar sicherlich nicht die Mehrheit ausmachen, höre ich immer wieder mit viel Vehemenz postuliert: Wir Betagten wollen mitdenken und mitmachen, mitplanen, mitprogrammieren, mitgestalten, mitproduzieren. Ich glaube, diese Meldung, so utopisch sie in Bezug auf die Massenmedien in den Ohren vieler tönen mag, muss wahrgenommen werden. Und es ist nach Wegen für eine Realisierung zu suchen. Nach meinem Dafürhalten ist das genau der Ort, wo sich Video anbietet. Es könnten sich überall im Lande Gruppen von Betagten formieren, die mit Videokameras sich und ihre Welt darstellen, um dies weiteren Gruppen zu zeigen und mit diesen ins Gespräch zu kommen. Erste Pilotprojekte gibt es.

Dass aus solchen Gruppenfilmen, welche wohl in hohem Mass Authentizität in der Aussage gewährleisten, von Zeit zu Zeit Beiträge fürs Fernsehen entstehen können, wäre möglich und nach meinem Dafürhalten auch anzustreben. In solchen Filmen würde eine Tendenz des Dokumentarfilmschaffens der letzten zehn Jahre aufgenommen, nämlich weg vom «Film über», hin zum «Film mit». Ein solches punktuelles Umkehren der Rezipienten- und der Kommunikator-Rolle könnte ein Ansatz sein für eine Humanisierung der technischen Massenmedien.

Postulate an die Neuen Medien


Heute und morgen stehen Teletext (Fernseh- und Bildschirmtext) und Videotext (Telefon-Bildschirmtext) – samt den andern Neuen Medien – im Brennpunkt der öffentlichen Diskussion. Bereits beginnen die Propagandisten derselben für ihren Werbefeldzug auch die alten Menschen als potentielle Nutzniesser der neuen Technologie ins Feld zu führen. Gerade der Betagte gewinne, wenn er ein noch breiteres Informationsangebot als bisher über den Bildschirm erhalte, er profitiere, wenn er aus seinem Lehnsessel heraus via Bildschirm jederzeit seinen Kontostand prüfen, Bestellungen und Buchungen über Knopfdruck bewerkstelligen könne.

Das tönt verführerisch. Welche Gefahren mit einer blinden medientechnologischen Entwicklung verbunden sind, werden von den Befürwortern wohlweislich verschwiegen. Claus Eurich schreibt dazu bezüglich Videotext in «Das verkabelte Leben. Wem schaden und wem nützen die neuen Medien?» (rororo-aktueIl 4732, Seite 94/95): «In der Bevölkerungsstruktur zeichnet sich – verglichen mit früher – eine überproportionale Zunahme des Bevölkerungsanteils über 65 Jahre ab. Diese Menschen sind zwar im allgemeinen rüstiger, selbständiger und auch materiell abgesicherter als in früheren Generationen, sie sind jedoch durch die Zerstörung des grossfamilialen und familialen Zusammenlebens, dem Trend zur Kleinfamilie, auch isolierter, vereinzelter. Für die meisten besteht Kontakt mit der Aussenwelt – und sei er auch noch so oberflächlich – oft nur noch in mehr oder weniger formalisierten Beziehungen: beim Einkauf, dem Aufsuchen des Amtes, der Post, der Bank usw. Die Produktwahl und -bestellung per Bildschirm, das In-Verbindung-Treten mit Behördenangestellten über den Fernsehschirm, der elektronische Bankverkehr, all dies untergräbt jene wichtigen Kontaktzonen. Die Technisierung der engsten Lebensumwelt wird die völlige Isolation und unvorhersehbare psychische und soziale Folgen nach sich ziehen. Das Argument von einer Erleichterung der Lebensbedingungen durch den Wegfall von Wegen ist nur ein Scheinargument, wenn wir uns weiterhin vorstellen, worin noch die Tagesperspektive der in Großstädten lebenden alten Menschen besteht, wenn die Sorge um den Alltag (...) fortfallt. Voraussichtlich wird die Abhängigkeit von den Angeboten der Massenmedien steigen. – Einmal ganz zu schweigen von dem Bruch im Lebensweltverständnis dieser Menschen.»

Schlussfolgerungen

1. Um in Zukunft überhaupt legitimiert und kompetent «Postulate von Betagten an die Medien» formulieren zu können, müsste zuerst ein grösserer Kreis von Betagten für diesen Bereich sensibilisiert und problematisiert werden, vorerst wohl in den aus der offiziellen Altersarbeit heraus initiierten Gruppen, später in Selbsthilfegruppen.

2. Für solche soziokulturelle Arbeit müsste gleichzeitig bei den Institutionen der AItersarbeit der gleiche Prozess der Sensibilisierung und Problematisierung einsetzen, weil nur so die Medienarbeit (Medienpädagogik resp. Mediengeragogik und -politik) integriert werden kann in eine zukünftige Alterspolitik.

3. Auch bei den Medienschaffenden ist die bevorstehende Umkehr der Bevölkerungspyramide (Der Anteil der Alten wird den Anteil der Jungen übersteigen!) wahrzunehmen und sind in den nächsten Jahrzehnten daraus Konsequenzen zu ziehen für die Programmgestaltung und -produktion.

4. Um qualifiziert weiterarbeiten zu können, muss im Problemfeld «Alter und Medien» – das in verschiedener Sicht als Neuland bezeichnet werden muss – Forschung betrieben werden: von Seiten der Gerontologie und der Kommunikationswissenschaft, der Publizistik, der Individual- und Sozialpsychologie.

Erst wenn die Postulate der Betagten bei den Massenmedien aufgenommen werden, sind auch die Betagten aufgenommen, das heisst ernst genommen, in die übrige Gesellschaft integriert.