«Haiti – die endlose Befreiung» – Fotos von Thomas Kern

Der Schweizer Fotograf Thomas Kern hat seit 1997 Haiti regelmässig besucht und dort Menschen fotografiert. In Winterthur werden 36 Schwarzweiss-Fotos davon unter dem Titel «Haiti – die endlose Befreiung» ausgestellt. Ein gültiges Dokument eines armen und dennoch reichen Volkes.

«Erdbeben-Hölle Haiti», «Die schlimmste Katastrophe aller Zeiten», «Killerbeben in Haiti». Solche und ähnliche Meldungen gingen nach dem 22. Januar 2010 um die Welt. Diese schreckten, wie ähnliche News aus andern Krisenherden, auf und holten Haiti aus dem medialen Unterbewussten an die grelle Oberfläche der Aktualität. Vielleicht ist heute solches nötig, dass geholfen wird. Doch Haiti, wie andere Konfliktländer, gibt es noch, wenn die Medien schon wieder neue Schlagzeilen gefunden haben.

Massenmedien haben nicht nur die Aufgabe, von Unglücken, Katastrophen, Sensationen zu berichten. Sie haben auch die Pflicht, über den Alltag, die Sensation des Alltags anderer Länder und Menschen zu informieren, weil diese Orte, diese Menschen Teile der einen Welt sind, vernetzt durch die Globalisierung. Solches leisten die aktuellen Medien Fernsehen, Radio und Presse jedoch nur selten. Dafür braucht es Medien und Medienschaffende, die weder der Tagesaktualität verpflichtet, noch von Quoten- und Auflagendruck abhängig sind, also eher Bücher, freie Filme und die Fotografie.

Das Bewusstsein über Haiti verändern

Thomas Kern, der bis zum 31. März in der CoalMine Gallery in Winterthur 36 Schwarzweiss-Fotos über Haiti unter dem Titel «Haiti – die endlose Befreiung» ausstellt, ist einer jener, die sich dieser Aufgabe stellen. «Ich will wissen, wie die Leute mit ihrer Lebenssituation umgehen, wie sie ihren lebensprallen Alltag meistern», meint er in einem Interview. Und auf die Frage, ob er mit Fotografie die Welt verändern wolle, meint er: «Nein. Ich unternehme bloss den Versuch, das Bewusstsein der Leute zu verändern, indem ich ihnen etwas zeige, das sie noch nicht gesehen haben.» Also doch: Es geht um eine Veränderung, die Veränderung des Bewusstseins, was wohl bedeutet, dass auch Haiti als Teil der einen grossen Welt wahr- und ernst genommen wird.

Haiti, der erste selbständige Staat Lateinamerikas, ist heute fast vollständig von der Unterstützung durch Geberländer, von internationalen Organisationen und den Rimessen emigrierter Landleute abhängig. In der ehemaligen französischen Kolonie, die im 18. Jahrhundert der einträglichste Überseebesitz Europas war, herrscht heute bitterstes Elend. Nach der Befreiung von der Kolonialherrschaft haben in Haiti einheimische Eliten gegen das Volk regiert, es verelenden lassen, dass heute 80 Prozent der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar pro Tag leben.

Die Lebensbedingungen der Menschen zeigen

1965 geboren, arbeitete Thomas Kern während seiner Ausbildung zum Fotografen in den Bereichen Mode-, Sach- und Industriefotografie. Ab 1989 war er ausschliesslich als Fotoreporter unterwegs, so in Nordirland, Kurdistan, im Nahen Osten und im ehemaligen Jugoslawien. 1990 gründete er zusammen mit andern die Schweizerische Fotoagentur Lookat Photos. Von 1998 bis 2006 lebte er als Freischaffender in San Francisco und kehrte anschliessend in die Schweiz zurück. Er wurde zweimal mit dem World Press Award ausgezeichnet und erhielt mehrere Eidgenössische Stipendien

Im Auftrag der Zeitschrift «du» ist er zusammen mit dem Schriftsteller und Journalisten Hans Christoph Buch 1997 zum ersten Mal nach Haiti gereist, um über das Leben in der Hauptstadt Port-au-Prince zu berichten. Seither ist er immer wieder ins Land zurückgekehrt. Mit der Kamera hat er den täglichen Kampf ums Überleben dokumentiert, diskret und doch ganz nah bei den Menschen. Seine Schwarzweiss-Aufnahmen zeigen die realen Lebensbedingungen in einem der ärmsten Länder der Welt. Sie erzählen von den grossen Anstrengungen für die kleinen Erfolge beim Versuch zu überleben und zu leben.

Vier von 36 Bildern

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Soldaten der Uno-Mission in Bel-Air, Port-au-Prince, 2006

Soldaten der Schutztruppe «Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti» patrouillieren im Quartier von Bel-Air. Zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in Haiti stehen seit 2004 Soldaten und Polizisten der Vereinten Nationen im Einsatz. In einem Land, das von den eigenen Regierungen ausgenützt und vom Ausland verwaltet wird. Abgebildet in einer präzise komponierten, detailreichen Fotografie.

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Vor der Eisfabrik, Rue des Ramparts, Port-au-Prince, 1997

Ein Arbeiter schäkert mit einer Marktfrau, die im Quartier La Saline Wasser verkauft. Mehr als die Hälfte aller Haitianer hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wie die Haitianerinnen und Haitianer sich dennoch freuen können, obwohl ein Grossteil von ihnen unter dem Existenzminimum lebt, zeigt dieses Bild voll Spontaneität und dennoch grossartig komponiert.

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André Pierre, Croix-des-Bouquets, 2003

André Pierre (1915-2005) war Künstler, Voodoo-Priester, Theologe und Philosoph. Er steht für die Mischung der archaischen Rituale mit der kirchlichen Tradition, welche das Leben der Menschen in Haiti wesentlich bestimmen. Neben Bildern von Voodoo-Priestern dokumentiert diese die Ausstellung mit Bildern ritueller Bädern und der Opferung von Tieren. Ein Bild von höchster Direktheit und Herausforderung.

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Höhepunkt der Pilgerfahrt nach Saut d’Eau, Ville de Bonheur, 2008

Zehntausende von Menschen pilgern nach Saut d’Eau, wo Gläubigen einst die Gestalt der Jungfrau Maria am Fusse eines Wasserfalls erschienen sein soll. Die Feierlichkeiten finden zu Ehren der Heiligen Jungfrau statt, die im Voodoo in Erzulie ihre Entsprechung findet. Erzulie lebt im Wasser und kann Wünsche erfüllen, Krankheiten heilen, Ehepartner finden, Pechsträhnen beenden oder Arbeit vermitteln. Das Foto des Wasserfalls und der Menschen darin wird als Ort körperlicher und spiritueller Reinigung zu einem Bild der Universalität, welche einen an Rodins Höllentor oder Michelangelos Sixtina erinnern, jedoch erfüllt von Sinnen- und Lebenslust.

Bilder mit Mehrwert

«Mein Ziel war es immer, Sachen darzustellen, die mehr zeigen, als was man sieht». Einen Mehrwert also bieten die Fotos von Thomas Kern. Im Vergleich zu den aktuellen Katastrophen-Bilder stellen sie die Sensation des Lebens, die «Conditio humana» der Menschen in Haiti in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar. Und weil die Bilder mehr zeigen und bedeuten, als man im ersten Augenblick sieht, stehen sie auch für unser Leben, unseren Freuden, Ängsten, unserer Hoffnung und Verzweiflung. Die Bilder, die zuerst Abbilder sind, werden zu Sinnbildern

«Fotojournalismus heisst, sich zu involvieren; da gibt es keine distanzierte Sicht. Ich ging 1989 nach Nordirland, weil ich überzeugt war: It’s a cause! Es ging mir als junger Fotograf nicht um eine neutrale Position, sondern um eine anwaltschaftliche.» meinte Thomas Kern über den Beginn seiner Karriere, was alles für all seine Haiti-Bilder nicht weniger zutrifft, wie die Ausstellung in der CoalMine Gallery in Winterthur zeigt. Haiti wurde immer wieder befreit, ist aber noch nicht frei. Menschen in allen Ländern und Lebenssituationen werden immer wieder befreit, sind aber im Grunde nie befreit, nie wirklich frei – dies vielleicht die allgemein verbindliche Botschaft dieses bedeutenden Foto-Oeuvres.

www.coalmine.ch

www.thomaskern.ch