«Quasimodo geniti» – ein modernes Mysterienspiel

Ein Musiktheater, frei nach dem Roman «Der Glöckner von Notre Dame» von Victor Hugo, gespielt von Geistig-Behinderten und Nicht-Behinderten des Theaters Hora und des Jugendchors Voice Steps. Ein Schau- und Hör-Spiel der besonderen Art, das berührt und bewegt.

In der Gestalt des Quasimodo vereinen sich die schlimmsten Vorstellungen von Entstellung, Hässlichkeit und abnormalem Verhalten. Obwohl seine Geschichte im Mittelalter spielt, steht der Glöckner von Notre Dame auch heute noch stellvertretend für all jene Menschen, die den gängigen Idealen von Normalität, Schönheit und Vollkommenheit nicht entsprechen. Doch was ist Schönheit? Was ist hässlich? Diese Fragen werden, ausgehend von der Geschichte des Glöckners Quasimodo und seiner Geliebten Esmeralda, im Stück «Quasimodo geniti» behandelt, dessen Fokus auf einer musikalischen Herangehensweise liegt. Über Spiel und Gesang sollen gängige Normen hinterfragt werden und verschiedene Welten aufeinander prallen. «Normalität und Abnormalität sind keine Eigenschaften, sondern die Sichtweise derjenigen, die bestimmen, was normal ist» heisst es in der «Zauberflöte Nr.6», einer früheren Ausgabe des Informationsheftes des Theaters Hora Theaters Hora.

Diese Art Theater erfordert grosse Bereitschaft, Konventionen aufzugeben. Sowohl vom Chor, der gewohnt ist, perfekt zu singen, als auch von den Schauspielern, die an den gängigen Klischees kratzen, um neue Formen von Schönheit und Harmonie zu entdecken oder Hässlichkeit und Diskharmonie auszuhalten. Ähnliches wird von den Zuschauenden verlangt, welche hier Menschen vor sich haben, die, professionell angeleitet, sich selbst oder Teile von sich spielen. Es geht um einen radikalen Perspektivenwechsel und das Infragestellen der Grenzen zwischen Behindert und Nicht-Behindert, Schön und Hässlich, Harmonie und Disharmonie.

quasimodo.JPG Quasimodo unter dem Volk

Das Theater Hora

Das Ziel des Theaters ist es, die künstlerische und kreative Entwicklung von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu fördern und ihr aussergewöhnliches Können einem breiten Publikum zu zeigen. Das Theater Hora wurde 1992 gegründet und ist heute das bekannteste Theater von und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Schweiz. Bis heute wurden achtunddreissig Produktionen mit fast sechshundert Aufführungen realisiert, allein oder zusammen mit andern Kunstschaffenden, wie hier den Voice Steps. Die letzte Aufführung des Theaters war «Faust 1 & 2» und kam dieses Frühjahr auf die Bühne, im vergangenen Sommer führte das Theater Hora in Zürich das Internationale Theaterfestival Okkupation durch, und im Oktober erlebte «Quasimodo geniti» beim Internationalen Theater-Festival No Limits in Berlin seine Uraufführung. Das Verwischen und Auflösen der Grenzen zwischen Behindert und Nicht-Behindert und das Aufdecken der Natürlichkeit, Offenheit und Spontaneität sind Schwerpunkte der Theaterarbeit und prägen eine eigene Ästhetik. Inzwischen wird dem Theater Hora in der Öffentlichkeit und in der Kunstwelt der Stellenwert und die Honorierung für die geleistete Arbeit zugebilligt.

Die Hora Band

Seit 2004 gibt es die Hora Band (http://www.hora.ch/neu/start.php?menu=angebot&untermenu=horabandhoerbeispiele&lan=d), die in Clubs, Kinos, an Open-Airs, Festen und Festivals im In- und Ausland wie jede andere Band Konzerte gibt, etwa zwanzig bis dreissig pro Jahr. Die Zusammensetzung der Mitglieder jedoch ist speziell. Sieben Musiker mit einer geistigen und psychischen Beeinträchtigung, dazu eine Organistin mit diagnostizierter Phobie vor Tastaturen und einem musikalischen Leiter, der schon mal den Lichtschalter mit einem Effektpedal verwechselt. Beste Voraussetzungen also um etwas zu erleben.

Ein modernes Mysterienspiel

Ich war bei einer Aufführung in der Offenen Kirche St. Jakob in Zürich, kam zu spät und hatte keine Eintrittskarte, bekam folglich einen schlechten Platz, von dem aus ich akustisch keine zehn Sätze verstand. Und dennoch war der Abend für mich einer der stärksten Theaterabende, die ich je erlebt habe, und ich gehe oft ins Theater. Etwas von einem wunderbaren Geheimnis lag über allem. Das ist Schau-Spiel und Hör-Spiel zugleich! Junge, talentierte Menschen hatten sich während rund einem Jahr mit Guido Simmen, dem musikalischen Leiter, Jacqueline Moro, der Regisseurin, und Rahel Bucher, der Dramaturgin, intensiv auf diesen Auftritten vorbereitet.

Auf dem Hintergrund der Geschichte der zwei Hauptprotagonisten ergibt dies ein faszinierendes, mit choreographischen, musikalischen und sprachlichen Szenen und Bildassoziationen erfülltes Spiel, ein Mysterienspiel. Für mich ist es mehr als bloss ein sozialpsychologisches Experiment. Es dringt vor zum Mysterium des Lebens, welches in seiner Existenz behindert ist, im Gegensatz zu «Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit» (im «Zarathustra»), gerade keine Ewigkeit bietet, sondern den Tod als die endgültige Behinderung, das endgültige Ende. Archaische Bilder über das Schöne und Hässliche, das Fragen danach und die Antworten darauf werden sichtbar, hörbar und erlebbar. «Du bis die schönste Hässlichkeit, die ich je in meinem Leben gesehen habe» gilt Quasimodo und bildet den Kern der Auseinandersetzung.

 

esmeralda.JPG Esmeralda in der Gruppe

Die Authentizität der Männer und Frauen auf der Bühne reisst mit. Sie benötigen dafür den Raum vor, hinter und im Publikum. Requisiten wie Stäben und Wolldecken unterstützen die Worte, Musik, Mimik, den Gesang und Tanz und vertiefen ihre Bedeutung. Ergreifend, wenn zwei in einem Pas de deux sich näherkommen und in eine Person verschmelzen oder drei sich umarmen und sich zu einem Paar vereinen, während im Hintergrund eine Frau den ganzen Abend mit Puppen spielt, sie wegwirft und dann wieder aufnimmt und liebkost. Wie schon angedeutet, war «Quasimodo geniti» für mich ein Mysterienspiel, wie es im Barock Calderon de la Barca, im zwanzigsten Jahrhundert Paul Claudel und in den Achtundsechzigerjahren das Living Theatre schufen. Doch hier ist es nicht gespielt, also Schein, sondern sind es die Menschen, die sich selbst sind, ist es Sein.

Für Leute, die nur das traditionelle Theater kennen, sind Aufführungen des Theater Hora vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Mein Vorschlag: Sich hineinfallen lassen! Man wird es nicht bereuen, man landet gut: bei den Schauspielerinnen und Schauspielern und am Schluss bei sich selbst.

Bis 6. Februar 2010 gibt es noch einige Aufführung in Eglisau, St. Gallen, Zug, Opfikon, Gipf-Oberfrick und Basel. Reservation über www.hora.ch empfiehlt sich.