Agota Kristof - ein Nachruf

Die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin der Heimatlosigkeit ist tot

Die vielfach ausgezeichnete ungarisch-schweizerische Schriftstellerin Agota Kristof ist am 27. Juli 2011 im Alter von 75 Jahren in Neuenburg gestorben. Ein Massenpublikum erreichte sie nie, ihre Bücher gelten als dunkel und schwierig. Kristof, die ihre sämtlichen Werke auf Französisch geschrieben hat, ist unter anderem mit ihrem Roman «Le grand cahier» («Das grosse Heft», 1987) bekannt geworden. Ihre Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. 2001 erhielt sie den deutschen Gottfried-Keller-Preis, darüber hinaus weitere Auszeichnungen aus der Schweiz, Österreich, Italien sowie erst in diesem Jahr den ungarischen Kossuth-Preis.

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Titelbild: (c) Yoksa Siz Hâlâ, Okumadınız mı, ayseninkitapkulubu.blogspot.com

«Dunkel, schwierig»

Die Schweiz habe eine ihrer grossen Schriftstellerinnen verloren, sagte Jean-Frédéric Jauslin, Direktor des Bundesamts für Kultur, gegenüber der Nachrichtenagentur SDA. Gemessen an der Qualität ihrer Arbeit sei ihr Werk zu wenig bekannt. Die Bücher der verstorbenen Autorin seien «dunkel, schwierig und keineswegs von Lebensfreude geprägt», erklärte Jauslin das Missverhältnis zwischen Kristofs literarischer Bedeutung und ihrer Bekanntheit, «ihre Werke berühren einen tief.» Als Person bleibe ihm Kristof als liebenswert und zurückhaltend in Erinnerung. Kristof sei eine der grossen Autorinnen des Kontinents, erklärte weiter Marlyse Pietri, die Gründerin des Verlags Zoé in Genf, «dass sie eine Schweizer Schriftstellerin war, hat man zu wenig beachtet.»

Durchbruch in den 1980er-Jahren

Kristof wurde am 30. Oktober 1935 im westungarischen Csikvánd geboren; kurz nach dem antisowjetischen Ungarn-Aufstand von 1956 floh sie mit Ehemann und Kind in die Schweiz. Hier lernte sie zuerst als Fliessbandarbeiterin und dann als Studentin an der Universität Französisch. 1978 begann sie zu schreiben. Den Durchbruch schaffte sie in den 1980er-Jahren mit dem Roman «Das grosse Heft», der in 20 Sprachen übersetzt wurde. Zusammen mit den Nachfolgeromanen «Der Beweis» und «Die dritte Lüge» bildet dieses Buch eine Trilogie. Auf Deutsch erschienen zuletzt 2007 Kurzprosa-Stücke unter dem Titel «Irgendwo. Nouvelles».

Grausamkeit und Naivität

Kritiker lobten daran den kargen, minimalistischen Stil sowie das thematische Spiel mit Grausamkeit und Naivität. Kristof verarbeitete ihre Vergangenheit 2005 im Roman «Die Analphabetin». Darin geht es um ihre Kindheit und Jugend in Ungarn sowie um die Begegnung mit der für sie neuen französischen Sprache in der Romandie. Kristofs Tod war ein langes körperliches Leiden vorausgegangen, weshalb sie auch nicht mehr an die Uraufführung ihres Stückes «Gestern» im Schiffbau des Schauspielhauses Zürich am 7. Mai 2010 erscheinen konnte. Den Kossuth-Preis in Budapest nahm sie noch persönlich entgegen. Dabei sagte sie der ungarischen Nachrichtenagentur MTI, sie habe seit einem halben Jahrzehnt nichts mehr geschrieben, da ihre Gesundheit dies nicht zulasse.

Alle ihre Bücher handeln von der Einsamkeit, die aus der Trennung erfolgt: Trennung von der Familie, den Brüdern, der Heimatstadt, dem Land, aus dem sie kommt, der Muttersprache, in der sie aufwuchs. Ihre Texte umreissen ein biographisches Geheimnis, das umso grösser wird, je näher man sich seiner Enthüllung glaubt. «Agota Kristof legt Spuren und verwischt sie wieder, indem sie sowohl in ihren vier Romanen als auch in ihrer „autobiographischen Erzählung“ mit dem Titel „Die Analphabetin“ immer wieder neue und einander widersprechende Angebote macht, wie die Dinge zusammenhängen könnten», meint Eric Bergkraut, der über ihr Leben zwei Filme gedreht hat. Schreiben wurde für sie immer mehr zum Versuch, das Leben zu bewältigen. Schreiben wurde schliesslich ihr Lebensinhalt.

«Ich versuche, wahre Geschichten zu schreiben, aber ab einem bestimmten Punkt wird die Geschichte unerträglich und ich muss sie ändern.» So fasst Agota Kristof ihr literarisches Werk, ihr Leiden am Leben zusammen.

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(c) Eric Bergkraut. Die DVDs der Filme über Agota Kristof sind zu Fr.40.- beim Autor erhältlich.

Aus zwei Gesprächen von Eric Bergkraut mit Agota Kristof

1997:

EB: Einsamkeit ist das Thema Ihrer Bücher, kann man das sagen?

AK: Ja, das Exil, die Einsamkeit. Und vor allem die Entwurzelung.

EB: Muss man sich entscheiden: Leben oder Schreiben?

AK: Man kann das ein wenig teilen, aber man kann nicht leben wie andere Menschen. Wenn man schreibt, kann man nicht wirklich leben. Es ist nicht die Einsamkeit, die zunimmt, sondern die Stille. (…) Klar, ich bin etwas depressiv, das liegt in meiner Natur, schon seit Langem. Ich war immer etwas düster.

EB: Wissen Sie, woher das kommt?

AG: Nicht wirklich, es ist in mir drinnen. Vielleicht liebe ich das Leben zu wenig. Die kleinen Vergnügen des Lebens. Vielleicht liegt es daran. Ein Buch kann nicht so traurig sein wie das Leben. Man wirft mir vor, traurige Bücher zu schreiben. Aber es gibt Leben, die sind noch viel trauriger. Vielleicht nicht mein eigenes. Aber wenn ich fernsehe oder Zeitung lese, dann sehe ich Leben, die sind viel trauriger als meins. Als meine Bücher.

2006:

EB: Wenn du jetzt einen Titel für dein bisheriges Leben finden müsstest, wie wäre der?

AK: Keine Ahnung. Nein, es ist bloss: Sie hat gelebt und ist gestorben.

EB: Aber sie ist doch noch ganz und gar lebendig!

AK: Ja, aber nicht mehr für lange.

EB: Ist das dein Ernst?

AK: Ja, mir ist ernst. Für mich ist alles egal. Nein, nicht alles. Aber die meisten Dinge sind mir doch egal.

EB: Was sind die Dinge, die dir nicht egal sind?

AK: Das sind die Kinder. Die Kinder und die Freunde, sagen wir es so.

Das Oeuvre der Schriftstellerin

Bücher:

1986: Le grand cahier. Le Seuil, Paris. Deutsch: Das große Heft, Rotbuch Verlag, Berlin 1987

1988: La preuve. Le Seuil, Paris. Deutsch: Der Beweis. 1988

1991: Le troisième mensonge. Le Seuil, Paris. Deutsch: Die dritte Lüge. 1992

1995: Hier. Le Seuil, Paris. Deutsch: Gestern. 1995

2004: L’analphabète. Récit autobiographique. Zoé, Genf. Deutsch: Die Analphabetin. 2005

2005: Où es-tu Mathias? Zoé, Carouge

2005: C’est égal. Editions du Seuil, Paris. Deutsch: Irgendwo

Hörspiele:

Das große Heft in einer Bearbeitung von Garleff Zacharias-Langhans. Regie Heinz Hostnig. Produktion BR/SWF 1989

Die Epidemie. Regie  Wolfgang Rindfleisch. Prod.: hr 1996.

Theaterstücke:

1998: L’heure grise et autres pièces

John und Joe

Lucas, Ich und Mich

2010: Gestern

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(c) Sandro Campardo, Keystone, 2004

Mitleiden und weiter lieben

Agota Kristofs Werke beschreiben das Leiden, den Krieg, den Tod, sie erzählen von der Heimatlosigkeit nach der Flucht in den Westen und in eine neue Sprache, sie schildern Verbrechen, sexuelle Perversionen, sie zeigen die Unmöglichkeit auf, sich seiner Vergangenheit zu entziehen. Doch im Tiefsten handeln sie von der Liebe, in ihrer reinsten und zartesten Form.

Mit ihrem Tode ist eine Schriftstellerin von uns gegangen, die wie keine andere – Franz Kafka und Samuel Beckett vielleicht ausgenommen – daran leidet und leiden lässt, was hinter diesem Leben steht, nämlich die Einsamkeit, entstanden aus dem Verlust von Geborgenheit, Heimat und von Menschen. Letztlich ist es der alles umfassende existenzielle Grund jedes Menschenlebens, der einem mit dem Alter bewusster wird und nicht mehr so leicht wegdiskutiert werden kann: dieses allgemeine Geworfen-Sein, dieses umfassende Letzlich-Allein-Sein. Doch keine Autorin und kein Autor hat, nach meinem Wissen, eine Antwort darauf ähnlich überzeugend, ergreifend und erschütternd gegeben wie sie: als Anteil-Nehmende, als Mit-Leidende, als Weiter-Liebende. Es macht traurig, einen solchen Menschen verloren zu haben.