Albert Anker: Ein Vollender

Ein Künstler, besser als sein Ruf

Zum  hundertsten Todestag von Albert Anker zeigt das Kunstmuseum Bern eine grosse Retrospektive seiner Werke, die viele in ihrer Begeisterung bestätigen – und einige vielleicht dazu bewegen wird. Albert Anker (1831 – 1910), unbestritten einer der populärsten Maler der Schweiz, braucht man nicht vorzustellen; in zahllosen Schweizer Haushalten hängen seine Bilder.

 BILD_1_Maedschen_die_Haare_flechtend.jpg/@@images/image/large

Am Weihnachtstag 1853 überzeugte er in einem feurigen Brief mit stichhaltigen Argumenten seinen Vater, dass er eine Künstler- anstelle einer Pfarrerlaufbahn einschlagen wolle. Dieser unverrückbare Drang begleitete ihn ein Leben lang. Er konnte nicht ahnen, dass die strickenden Mädchen, lesenden Grossväter und fleissigen Schulkinder und all die andern typischen Ankerschen Themen dereinst weit über die Landesgrenzen hinaus, so in Frankreich und in Japan, sich grosser Beliebtheit erfreuen würden.

Das breite Spektrum von Ankers malerischer und zeichnerischer Tätigkeit umfasst vor allem die Menschen seiner ländlichen Umgebung, des Berner Seelandes. Verwandt den Schilderungen in den Büchern von Jeremias Gotthelf, welche er ebenfalls illustrierte. Und damit hatte er, im Gegensatz zu vielen Anderen, zeit seines Lebens Erfolg. Die heute zum Teil negative Rezeption («veraltet», «kitschig») seines Werkes hat, so meine ich, mehr einer fragwürdigen Beschlagnahmung seiner Bildinhalte für die derzeitige politische Arbeit vor allem einer Partei zu tun als mit einer wirklich künstlerischen Bewertung.

Stillleben

Bereits seine Stillleben, Arrangements von Gegenständen, deren Auswahl und Gruppierung nach inhaltlichen und ästhetischen Aspekten etwas Typisches verraten, fallen wohltuend auf. Die Bilder des bäuerischen Alltags bestechen durch einfühlsame Linienführung, sorgfältige, dem Sujet angepasste Farbgebung und eine harmonische Komposition. Über die Tatsache hinaus, dass sie als aufschlussreiche historische Zeitzeugnisse dienen, sind sie auch vollendet komponierte Kunstwerke mit einem ästhetischen Mehrwert.

stilleben.jpg/@@images/image/large

Was die Bider ausstrahlen, sind Achtsamkeit und Sorgfalt, was letztlich bedeutet, Sorge zu tragen zur Schöpfung, zu allem, was ist. Und das löst bei den Beschauern die gleiche Achtsamkeit, Sorgfalt und schliesslich Ehrfurcht aus. Diese zutiefst religiöse Haltung dürfte seiner Vergangenheit als Theologe entstammen und kommt unaufdringlich und selbstverständlich daher. «Das Gebiet der Kunst kommt mir vor wie ein verlorenes Paradies», schrieb der Künstler aus Jena 1853 an seinen Vater. Die Bilder stellen ein Stück verlorenen Paradieses dar, was Kunst immer auch sein darf: ein Paradies, das für Augenblicke zum Leben erweckt werden kann.

Porträts

Ein-, Zwei- und Mehrpersonenbilder, vor allem von Kindern, aber auch von Alten, hat Anker immer wieder gemalt. Sie gefallen durch ihren Zauber, berühren und bewegen durch das, was bei jeder Person, was zwischen den Personen geschieht. Höchst sensible Äusserungen vor allem in den Gesichtern zeichnen seine Werke aus. Ebenso die aufs Feinste ausgeführten Kleider und Accessoires. Die «Gegenstände und Kleider sind nie inszeniert» und «das Mädchen scheint sich nicht bewusst, dass man es beobachtet, das gibt diesem Bild etwas Selbstverständliches», meint der Anker-Kenner Christian Klemm angesichts des Bildes «Mädchen, die Haare flechtend» von 1887.

  schulmädchen.jpg/@@images/image/large       BILD_11_Grossvater_mit_schlafender_Enkelin.jpg/@@images/image/large                              

Wenn Leben Bewegung ist und ohne Bewegung Leben nicht stattfindet, wie Neurophysiologe Moshe Feldenkrais meint, dann bilden diese Bilder Leben ab. Denn was sich zwischen den Menschen abspielt, ist eine innere Bewegung, die auf das Publikum überspringt und sich als Stimmung reinen Glückes verbreitet. Diese persönliche «Aura eines Menschen zu erfassen» war immer Ankers Anliegen. «Um etwas habe ich mich von Anfang an immer bemüht, soweit es in meinen Kräften stand: um das psychologische Interesse, wahrscheinlich ein Rest meiner Theologie», schrieb er 1899 einem Freund.

Genrebilder

Genrebilder sind Abbildungen von Alltagsszenen, Menschengruppen, Szenen und Handlungen als Schilderung von Lebensformen eines Volkes und dessen landschaftlicher Umgebung. Wenn nicht nur Einzelpersonen, sondern eine Schulklasse bei der Prüfung oder auf einem Ausflug, eine Kinderkrippe, eine Jugendgruppe im Schnee, politisierende oder trinkende Männer in der Gruppe abgebildet sind, dann wird das Beziehungsgeflecht, die Kommunikation intensiviert. Jetzt erzählen die Bilder! Viele seiner Werke kommen wie literarische Erzählungen daher. Wie kaum bei einem andern Maler reizen diese Werke auch in der Ausstellung zum Erzählen, zum Nacherzählen, was auch Ankers Absicht war. «Nun will ich kleine Dorfgeschichten malen», schrieb er 1856 von Paris in die Heimat. Hören wir hin, wie in der Ausstellung erzählt, beschrieben und gerätselt wird.

kinderkrippe.jpg/@@images/image/large

Keine Person der teilweise grossen Gruppen hat er vernachlässigt. Jede hat ihre Daseinsberechtigung, ihre Bedeutung, ihre Würde. So meint Christoph Blocher, der grösste Anker-Sammler der Schweiz, zum «Schulspaziergang» von 1892: «Ich kenne das Bild gut, es hängt seit 15 Jahren über dem Esstisch mir gegenüber. Es hat mich noch nie gelangweilt, denn jedes Kind hat seine eigene Persönlichkeit, und obwohl die Klasse zusammen über die Landschaft spaziert, hat jedes Kind seinen Freiraum. Er hat sich am meisten für Kinder und Alte interessiert, einfache Menschen auf dem Land (…) Anker hielt sich an Menschen. Er zeigte sie schön, aber nie heil.» Werte, wie sie aus diesem Bild ablesbar sind, können durchaus als Vorbild verstanden werden, sollte jedoch nicht zweckentfremdet und missbraucht werden.

Kinder- und Altersbilder

Am berühmtesten und beliebtesten sind seine Kinderbilder, die er auch am häufigsten gemalt hat. Doch lohnt es sich, auch seine Werke mit Alten anzuschauen und zu befragen, welche Bilder des Alters sie zeigen. Eine grundsätzliche Thematisierung der Altersbilder erläutert mein Blog-Beitrag «Welche Altersbilder wollen wir verbreiten?». Vermag man von den historischen Äusserlichkeiten abzusehen, so präsentiert Anker einen grossen Reichtum an Altersbildern. «Bei Albert Anker wirkt nichts aufgesetzt oder künstlich. Anker stellt den Alltag in den Mittelpunkt und zeigt dabei die Schönheit im Alltäglichen», meint Blocher vor dem «Mädchen, die Haare flechtend» von 1887.

BILD_10_Grossvater_erzaehlt_eine_Geschichte.jpg/@@images/image/large

Alte Männer und Frauen werden gebraucht, haben eine Funktion, bei den Enkeln, in der Dorfgemeinschaft, bei der Arbeit, können aber auch zuhören, geniessen, sich ausruhen. Von der Wiege bis zur Bahre schildert er das menschliche Leben in grosser Vielfalt. Vielfältiger, differenzierter und reicher als die Werbung und die Apologeten des Anti-Aging in Wirtschaft, Wissenschaft und den Altersinstitutionen.

Wahrheit und Schönheit

Anker liebte seine Menschen. Das spürt man, das wirkt bei uns weiter. Dieses Liebesverhältnis hat eine Form: die Schönheit. Diese strahlt, verklärt. Wir erleben diese, seine Haltung in all seinen Werken, selbst wenn sie Krankheit und Tod darstellen.

Schönheit ist bei Anker nie oberflächlich, nie Folklore, was Kritiker ihm schon vorgeworfen haben. Sie kommt von innen und geht nach innen. «In ihrem Subjekt sind Schönes und Gutes dasselbe, denn sie gründen auf dieselbe Realität», meint Thomas von Aquin. «Etwas Schönes ist eine immer währende Freude», schrieb John Keats, gut eine Generation früher. Anker drückt es in bescheidenen, einfachen Worten wie folgt aus: «Ich male, wie der Vogel singt» (1856 in einem Brief an Otto von Greyerz).

Die Frage nach der Positionierung

Zugegeben, Albert Anker war kein Fortschrittlicher, er hat keine neue Epoche eingeläutet, nichts Neues erfunden. Er war ein Konservativer, hat bewahrt, was vor ihm entwickelt und gelehrt wurde, was er in Paris, bei Charles Gleyre, und andern Vorbildern, etwa Courbet, gelernt hatte. Doch er brachte es zur Vollendung, er vollendete eine Epoche. Solches wird einem klar, wenn man Albert Anker (1831 bis 1910) mit einigen Zeitgenossen der Welt- und der Schweizer-Malerei vergleicht und vor allem deren Werke in der Zeit von etwa 1880 bis 1900 betrachtet. Hier einige dieser Künstler:

  • Cuno Amiet: 1868 – 1961
  • Paul Cézanne: 1839 – 1906 
  • Edgar Degas: 1834 – 1917
  • Giovanni Giacometti: 1868 – 1933
  • Ferdinand Hodler: 1853 – 1918
  • Wassily Kandinsky: 1866 – 1944
  • E. L. Kirchner: 1880 – 1938
  • Gustav Klimt: 1862 – 1918
  • Henri Rousseau: 1844 – 1910
  • Edouard Manet: 1832 – 1883
  • Paula Modersohn-Becker: 1876 – 1907
  • Claude Monet: 1840 – 1926
  • Berth Morisot: 1841 – 1895
  • Edvard Munch: 1863 – 1944
  • Camille Pissarro: 1831 – 1903
  • Odilon Redon: 1840 – 1916
  • Pierre August Renoir: 1841 – 1919
  • George Pierre Seurat: 1859 – 1891
  • Giovanni Segantini: 1858 – 1899
  • Paul Signac: 1863 – 1935
  • Alfred Sisley: 1839 – 1899
  • Félix Valloton: 1865 – 1925
  • Vincent van Gogh: 1853 – 1890

Vielleicht klären sich mit einem solchen Vergleich einige Missverständnisse. Ich meine, in der Kunst, in der Geschichte und in der Politik ist immer wieder festzustellen, dass beides nötig ist: Das Konservative und das Progressive, das Vorwärtsschauen und das Zurückblicken, das Auf-den-Weg-Gehen und das Am-Ziel-Ankommen. Siehe dazu meinen in die ähnliche Richtung weisenden Aufsatz über die Parteien in der Demokratie (http://www.seniorweb.ch/type/magazine-story/2009-10-15-politik-braucht-ganze-menschen-ganz). Auch hier sind alle wichtig und notwendig.

Der Sprung ins  21. Jahrhundert

In verdienstvoller Weise konfrontiert das Kunstmuseum Bern Albert Anker, einen Grossen des 19. Jahrhunderts, mit Werken einer Künstlerin und eines Künstlers des 21. Jahrhunderts: mit der Videoinstallation «Honig, Milch und erste Veilchen» von Chantal Michel und mit «Die Subjektivierung der Wiederholung» von Yves Netzhammer.

netzhammer.jpg/@@images/image/large    michel.jpg/@@images/image/large

Es lohnt sich, nach dem Besuch der Anker-Ausstellung noch eine Stunde anzuhängen, um in dreiviertel Stunden Netzhammers grosse Installation anzuschauen, sich hineinziehen zu lassen in diese Auseinandersetzung mit Macht und Gewalt und der Annäherung zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen. Allein schon der Zugang ist typisch für ein aktuelles Werk. Jetzt heisst es nicht mehr «wahrnehmen, um für wahr zu nehmen», sondern «wahrnehmen, denken, um für wahr zu nehmen»!  Als «zeitgenössischen Traum in Albert Ankers Bildwelt» nimmt Michel in ihren Videos Elemente, Fragmente des Meisters auf und variiert und verfremdet sie. – Zu beiden gibt es, wie auch zur Anker-Ausstellung, gute Informationen.

Das Kunstmuseum Bern bietet zur Anker-Ausstellung zahllose interessante Zusatzangebote, -events und -publikationen an. Alle Informationen gibt es auf www.kunstmuseumbern.ch.