Ans Meer

Nach «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» hat Tim Krohn 2009 den Roman «Ans Meer» geschrieben. Darin spielt er gekonnt und unterhaltsam zugleich auf der Klaviatur der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Auf eine Nacherzählung der Story von Tim Krohns Roman «Ans Meer» wird verzichtet. Leserinnen und Leser werden den Genuss des selber Entdeckens schätzen und sich an Überraschungen freuen. Denn vieles ist unvorhersehbar. Wenn die Handlung einmal vorhersehbar scheint, schlägt sie bestimmt unvermittelt einen Haken, und das mit Bravour. Nachfolgend einige Bemerkungen zu dem, was mich weiter an diesem Werk überzeugt und erfreut. So viel sei immerhin verraten, es handelt von einem Haus am Meer, zwei norddeutschen Paaren mit je einer Tochter, einer unmöglichen Liebe und einem lange ungeklärten Tod.

Den Roman zeichnet eine kluge Verwendung von Motiven und deren Wiederholung aus. Sätze, die beim ersten Lesen beiläufig und harmlos erscheinen, entpuppen sich beim Zurück- und Vorwärtsblättern als bedeutungsvoll. Was am einen Ort auf der Wasseroberfläche brodelt, versteckt sich am andern in deren dunklen Abgründen. Wasser durchzieht den ganzen Roman als ein zentrales Motiv – als Element des Todes, aber auch des Weiterlebens und Neuanfangs.

Faszinierend auch, mit welcher Leichtigkeit Kohn aus verschiedenen Blickwinkeln, so aus der Sicht von Anna, Jens, Josefa und Rüdiger, von den verdrängten Erinnerungen und Schuldgefühlen erzählt. Seine Wörter und Sätze stehen der Geschichte nirgends im Weg. Sie treffen die Verhaltensweisen der Menschen, beschreiben präzise, was abläuft. So glaubt man sich mittendrin, wandert, rennt, schwimmt und spielt selbst einen Part in dem kleinen Welttheater.

Begeistert hat mich weiter, dass Tim Krohn seine eigene Welt erschafft, neu, unverbraucht, einmalig und erlebbar. Er erzählt nicht nur, was abläuft, er staffiert die Räume, in denen die Handlung geschieht, auch aus, möbliert sie. Bei ihm tauschen die Menschen nicht Sprechblasen aus. Sie sind da und leben in wirklichen Räumen, voll bestückt mit Dingen, mit oder ohne tiefere Bedeutung.

Es gefällt mir, wie der Autor, ähnlich wie ein gutes Fussballteam, das Tempo variiert, einmal nach vorne stürmt, dann verlangsamt und schliesslich zum Stillstand kommt. Als Ganzes ist der Roman zügig geschrieben, die 300 Seiten sind leicht in zwei Tagen gelesen. Die Spannung hält bis am Schluss an, erzeugt nicht mit Tricks und Gags, sondern mit der Schilderung echter Gefühle der Schuld, der Einsamkeit und anderer menschlichen Regungen. Zu Beginn recht leichtfüssig, bündeln sich erst allmählich die Stränge zu einem reichen Plot. Diese Menschen mit ihren Beziehungen anzusehen und zu hinterfragen, kann Lesende dafür sensibilisieren, die eigenen Verhältnisse und jene ihrer Umfelder besser zu verstehen. Eine menschliche Bereicherung, was die Soziologen «Probehandeln» nennen. Man lebt im Roman mit, um in der Berg- und Tal-Fahrt des Lebens vielleicht einmal besser zu handeln.

Raffiniert lässt der Erzähler, wie in einem Kaleidoskop, immer wieder neue Facetten der Ereignisse und Geschehnisse aufblitzen, die schliesslich an Existenzielles rühren: die Hoffnung, aber auch den Zweifel, die Geborgenheit, das Zuhause und als deren Kern die Sehnsucht. Und dies alles in einer Sprache, die nie langweilt, sondern im besten Sinn des Wortes unterhält, nämlich Nahrung, Unterhalt ist für die Seele.

Der Autor und sein Werk

Geboren wurde Tim Krohn 1965 in Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen, aufgewachsen ist er in Glarus. Von 1984 bis 1992 studierte er Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Anschließend hospitierte er bei verschiedenen Rundfunksendern und Theatern. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Zürich, schreibt Prosatexte, Dramen und Hörspiele und erhielt zahlreiche Preise.

(Aus urheberrechtlichen Gründen habe ich ein Foto von Tim  Krohn eliminiert. Er war zwar vom Verlag bezahlt, ich aber habe unter dem Bild den Namen des Fotografen und der Agentur vergessen. Dafür entschuldige ich mich beim Autor.)

Die Geschichte von Jens und dessen Mutter Josefa, die aus dem Norden in die Schweiz eingewandert sind, hat der Autor schon einmal in seinem Band «Heimweh» erzählt. In der berührenden Erzählung «Das Meer» stammte Josefa noch aus Schweden und nennt ihren Jungen liebevoll «lilla flicka», kleines Mädchen. Jetzt ist aus der Erzählung der Roman «Ans Meer» geworden. «Erwachsenwerden tut weh, aber das Meer kann trösten», meint ein Kritiker über den Erzählband. Damit trifft er auch den Kern des Romans.

Die wichtigsten Titel des Autors sind: «Fäustchen», 1990; «Surfer», 1992; «Die apokalyptische Show von den vier Flüssen Manhattans», 1994; «Der Schwan in Stücken», 1994; «Polly», 1995; «Zeitalter des Esels», 1995; «Dreigroschenkabinett», 1997; «Quatemberkinder und wie das Vreneli die Gletscher brünnen machte», 1998; «Irinas Buch der leichtfertigen Liebe», 2000; «Bienen, Königinnen, Schwäne in Stücken», 2002; «Die Erfindung der Welt», 2002 (mit Elisa Ortega); «Heimweh», 2005; «Vrenelis Gärtli», 2007; «Warum die Erde rund ist», 2008; «Ans Meer», 2009, und «Platons Höhle», 2009.

Tim Krohn: Ans Meer. Roman. Verlag Galiani, Berlin 2009. 303 Seiten. ISBN 978-3-86971-002-0. Fr. 33.90.