AugenBlicke

Was sagen Augen? Was meinen Blicke? Was bedeuten Augenblicke? Mit solchen und ähnlichen grundsätzlichen Fragen konfrontiert die Ausstellung «AugenBlicke» im Museum im Lagerhaus St. Gallen das Publikum.

Der Augenblick ist ein kurzer Moment, der Bedeutung hat. – Der erste Augenblick entscheidet oft bei einer Begegnung. – Augen gelten als Spiegel der Seele. – Blicke dringen in die Seele ein. – «Wenn ich Gesichter male, wage ich es, andere Menschen anzusehen», findet Hans Weder, einer der sechs Künstler der Ausstellung «AugenBlicke» des Museums im Lagerhaus St. Gallen. – Augen sind der wichtigste Teil eines Porträts. Selbstporträts erfassen die Persönlichkeit und Befindlichkeit eines Menschen. Mit ihnen gibt sich der Künstler der Öffentlichkeit preis. – «Was wir sehen, blickt uns an», meint Georges Didi-Hubermann. – Die «Beseeltheit des Porträts» beschreibt die Einheit des Körperlichen und Seelischen, auch das Porträt ist die «Schöpfung einer Seele», schreibt Georg Simmel. – Im Bildnis transformiert das Ich zum Du. Das Kunstwerk verlangt bei Schaffenden und Konsumierenden ein Gegenüber, lädt zum Dialog ein.

Das Museum am Lagerplatz versucht mit seinen Ausstellungen die Definitionen «Art brut», «autodidaktische Kunst von Laien», «Kunst von geistig Behinderten», «naive Kunst» und «Outsider Art» aufzuweichen, um den Kunstwerken weniger voreingenommen begegnen zu können. In der aktuellen Ausstellung mit dem Fokus «Augen», «Blicke», «AugenBlicke». Die gezeigten Werke erzählen einem Erstaunliches über und aus Welten, die für die meisten unbekannt und verschlossen sind.

Sechs AugenBlicke für persönliche Begegnungen

 

berta-balzli.jpgBerta Balzli (1920 – 2010) war das jüngste Kind einer Kleinbauernfamilie im Bernbiet, besuchte dieBäuerinnenschule und fristete ein hartes Leben, vor allem, nachdem ihr Mann, der einst Pfarrer werden wollte, tödlich verunglückte. Die zarte und sensible Frau musste ihre beiden Töchter, von denen eine behindert ist, allein durchbringen. Aus diesem sozialen und psychischen Umfeld heraus malte sie traumartige Bilder voll lyrischer Empfindsamkeit: ätherische Frauenfiguren, die sich im unbestimmten Raum wie im Nichts zu formen und wieder aufzulösen scheinen.

 

 

 

 

 

 

Berta Balzli, ohne Titel, undatiert, Acryl auf Papier auf Spanplatte aufgezogen, Schenkung Margrit Balzli, 2011, © Museum im Lagerhaus

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«Ich sehe im Verrückt-Sein einen neuen Ausdruck», schrieb Walter Casanova (1918 – 1999), auf die Rückseite eines Bildes. Seine Werke sollten nach seinem Wunsch vernichtet werden. Ein Künstlerkollege jedoch rettete sie. Erst nach seinem Tod wird das ungestüme, emotionale Werk ausgestellt. In rauschhaften Arbeitsexzessen schuf der Outsider in den siebziger und achtziger Jahren Hunderte von Werken. Sein einsames, obsessives Schaffen hielt der Künstler verborgen. Er klatschte die Farben in dicken Schichten auf jegliches Material und zeigte sich als ein auf sich selbst Geworfener.

 

 

 

 

 

Walter Casanova, Selbstporträt, 1973, Öl auf Leinwand, © Galerie Pius Müller Art Seefeld, Zürich


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In Kriens geboren, wurde Otto Gilli (*1940) zunächst Sozialarbeiter. Ein Psychologiestudium brach er ab, um Maler zu werden, doch Depression führten wieder zum Abbruch anfänglicher Erfolge. Schliesslich wurde er Zeichenlehrer. Sein immenses Werk umfasst nervöse, dichte Tuschzeichnungen und Fingermalerei: meist Menschen in Bedrängnis. Es entstanden Bildnissen in Aquarell und Acryl, mit Titeln wie «Ich», «Selbst», «Angst», «Gesichter», «Trauer» und «Tod». In sanfter Farbmodulation arbeitete er die einzelnen Gesichter heraus und verzerrte und reduzierte sie auf einzelne Partien, die für das Ganze stehen.

 

 

 

 

 

Otto Gilli , Angst I, 2004, Aquarell auf Zeichenkarton, Schenkung des Künstlers, 2011, © Museum im Lagerhaus

 

 

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Seit zehn Jahren malt Stefan Gruber (*1972) intensiv, nachdem er in der psychiatrischen Klinik positivResonanz auf seine ersten Bilder erhalten hatte. Seine Krankheit prägte sein Leben, riss ihn aus dem Studium und unterbrach immer wieder seinen Berufsweg. Heute arbeitet er in der Administration einer Firma in Riedikon. Malen bedeutet für ihn «Flucht». Gesichter sind sein Thema. Nahezu stereotyp wiederholen sie sich in ihrer Form und erinnern an japanische Mangas. Nuancierte Veränderungen der Blickrichtung schaffen einen neuen, eigenen Ausdruck. Er malt Gesichter, weil sie «das Leben widerspiegeln».


 

 

 

 

Stefan Gruber, ohne Titel, um 2008, Wasserfarbe auf Papier, Leihgabe des Künstlers, © Stefan Gruber

 

 

In schnell umrissenen, in Schwarz gehaltenen Gesichtern, die sie als «Ausbrüche» bezeichnet, zeigt Cornelia Keller (*1982) meist expressive Selbstporträts. Die gelernte Grafikerin mit einem berufsbegleitenden Architekturstudium in Luzern sieht sich im freien Zeichnen als Autodidaktin. Ihre emotionalen Blätter entstehen spontan und unüberlegt. Hier brechen sich heftige Gefühle Bahn und suchen nach einem Ausdruck, einer stimmigen Bildfindung. Der gern verwendete breite Ölstift hinterlässt Fettspuren, die den geführten Strich wie einen Schatten begleiten.

Cornelia Keller, ohne Titel, 2009, Kreide auf Papier, Leihgabe der Künstlerin, © Cornelia Keller

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Typisch für das künstlerische Arbeiten von Manuel Müller (*1955) ist die Gratwanderung zwischen Outsider Art, kultureller Kunst und Professionalität. In Paris geboren, begann er 1972 mit Marmorskulpturen und ab 1976 mit Holz. Seit 1982 lebt und arbeitet er in Lausanne. Sein Schaffen steht ausserhalb zeitgenössischer Tendenzen und löst Irritationen aus. Dabei ist er ganz der menschlichen Figur verhaftet. Ihn treibt es vom Ich zum Du: in einem Spiel mit dem «alter ego», dem anderen Geschlecht und dem Untergründigen, im medialen Zusammenwirken verschiedener Techniken und Materialien.

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Manuel Müller, Tête noir 2, 2006, bemalt, 37 x 34 x 6 cm, Besitz des Künstlers

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Die Bildnisse von Hans Weder (*1953) muten an wie Psychogramme. Immer wieder gestaltet er das menschliche Antlitz: malerisch modelliert, in wenigen Strichen hingeworfen, verletzt von Farbstrichen und -flächen wie Wunden und reduziert auf einzelne Linien, die Augen, die Nase oder den Mund markierend. Ihm gilt das Bildnis als «Gegenüber in der Einsamkeit». Seine an der Ecole des Beaux-Arts in Paris begonnene Künstlerlaufbahn wird jäh von einer psychischen Krankheit abgebrochen. Seinen Traum vom Künstlerleben konnte der Herisauer nicht erfüllen, doch Künstler ist er geblieben.

 

 

 

 

 

Hans Weder, ohne Titel, undatiert, Öl auf Leinwand, Leihgabe des Künstlers, © Hans Weder

 

 

Einen AugenBlick lang vor dem Spiegel verweilen

Es lohnt sich, jedem einzelnen dieser sechs Künstler der von der Museumsdirektorin Monika Jagfeld feinsinnig kuratierten Ausstellung auf Augenhöhe zu begegnen. Das heisst, den abgebildeten Gesichtern in die Augen zu schauen und dort, wo diese den Augenkontakt verweigern, diese Ablehnung ertragen und die Wirkung auf uns zu befragen. Als Einstimmung für die Ausstellung stehen die obigen Bilder. Das heisst aber auch, sich selbst gelegentlich sich selbst vor dem Spiegel einen AugenBlick lang in die Augen zu sehen – und dies nicht bloss am Morgen beim Rasieren oder beim Sich-Schminken …

Titelbild: Berta Balzli, ohne Titel, um 1999 – 2000, Acryl auf Papier, Acryl auf Papier, Schenkung der Künstlerin 2000, © Museum im Lagerhaus

Informationen über die Ausstellung und Begleitveranstaltungen: www.museumimlagerhaus.ch.