Bild-Begegnungen
Zwei Beiträg zum 
Projekt „Bildbeschreibungen“von Suzette Beck
F. Gehr: Der Apfelzweig
Im ersten 
Moment:
Rot, 
Grün, Gelb, Blau und Weiss
leuchten mir 
entgegen.
Nach einer 
Weile:
Rot- 
und orangenfarbene Äpfel an einem Ast
und einige dunkelgrüne 
Blätter,
vor 
hellgrünem Hintergrund unten,
blauem oben 
und
weissem 
dazwischen.
Das 
heisst:
Ein 
Zweig mit vier Äpfeln
draussen in der 
Natur.
Dinge und Inhalte entdeckend
Ich verweile vor dem 
Bild.
Es ist 
etwa eineinhalb Mal breiter als hoch.
Etwas unterhalb der 
Mitte
führt 
ein dunkelbrauner Ast
von links nach rechts 
waagrecht durchs ganze Bild.
Darunter, links von 
der Mitte,
hängt ein erster sattroter 
Apfel,
dunkelgrün am untern 
Rand.
Ihm folgt rechts ein 
orangegelber zweiter Apfel,
oben leicht von einem 
hellgrünen Blatt verdeckt.
Nach einem kleinen 
Abstand
befindet sich rechts 
davon,
vor dem 
Ast,
ein 
dritter, roter, oben leicht orangefarbiger Apfel,
dessen Stiel hinauf 
weist.
Raumgliederung suchend
Über dem linken 
Apfel
hängt 
leicht angeschnitten
durch ein aufrechtes 
Blatt,
ein 
oranger Apfel mit einer roten rechten Seite,
sozusagen vor einem weissen 
Hintergrund.
Ein kleiner brauner 
Ast,
ein 
aufragendes grosses dunkelgrünes
und ein kleineres 
gleichfarbiges Blatt
verbinden den 
Apfel
mit dem 
Blau des Himmels.
Im rechten Drittel 
stehen drei Blätter:
Aufrecht ein 
dunkelgrünes,
links und rechts 
davon
je eines 
in hellem Grün.
Ganz rechts, das Bild 
beschliessend,
über dem roten dritten 
Apfel
und 
unter dem rechten Blatt der Dreiergruppe
weitet sich ein hellgrüner 
Hintergrund:
Wohl eine 
Wiese.
Ebenso liegt die 
ganze untere Fläche da
wie eine hellgrüne 
Wiese,
in 
welche der Apfelzweig hineinragt.
Den oberen Abschluss 
bildet ein blauer Himmel,
ergänzt durch zwei liegende 
dunkelgrüne Blätter
am Bildrand.
Nach Hintergrund fragend
Nicht die Addition 
der Gegenstände,
auch nicht die 
Farben
machen 
den Reiz dieses Aquarells aus.
Sind es die 
Kontraste:
Rot 
vor Grün?
Orange, Rot, Hell- und 
Dunkelgrün vor Weiss?
Grün, Rot, Orange vor 
Blau?
Auch 
nicht.
Es sind 
die Harmonien,
die Klänge aller Farben und 
Formen,
Gewichte und 
Äquivalenzen
– 
von Fragen und Antworten
der Teile und des 
Ganzen:
Blau – 
Hell- und Dunkelgrün – Rot – Orange – Weiss,
Rund, Eckig, Oval, Gebogen 
usw.
Diese Harmonien sind 
nicht einfach im Bild vorhanden.
Sie strahlen aus ihm 
heraus.
Wenn 
ich ins Bild eintauche,
falle ich,
nach den vielen Farb- und 
Form-Sensationen:
In die weisse, leuchtende 
Leere in der Mitte.
Hinein, hinaus oder 
hinüber?
Transzendenz!
Ich 
weiss,
dass 
für eine Bild-Aussage eine Überzeugung,
ein Glaube nötig 
ist.
Hier ist 
es die „religio“,
die Bindung und Verbindung 
nach oben
des 
Malers Ferdinand Gehr.
(79 F. Gehr steht unten in der 
Mitte.)
In diesem Bild 
erscheint sie mir,
innerhalb seines 
Gesamtwerkes,
am schönsten und 
selbstverständlichsten.
Hier ist 
Natur
keine 
Voraussetzung für das Religiöse,
sondern kongruent 
damit.
Gleichheit von Innen und 
Aussen,
von 
Form und Inhalt,
von Natur und 
Übernatur,
vollkommen 
eins.
Hanspeter Stalder
G. Klimt: Der Kuss
Horizontal in der 
Mitte,
vertikal am obern 
Rand
in einem 
quadratischen Bild:
auf einer 
Blumenwiese
ein Paar,
ein Mann, der gerade 
steht,
eine 
Frau, die mit nackten Füssen kniet.
Sie füllen einen 
Drittel des Bildes,
betonen durch ihre aufrechte 
Haltung
und 
das Muster des Gewandes
die Senkrechte, das 
Aufrechte.
Die Körper 
sind
in 
goldene,
ornamentale Gewänder 
gehüllt.
Das Kleid des Mannes 
besteht
aus 
rechteckigen,
ausgemalten oder 
umrandeten,
geometrischen 
Mustern,
weiss, schwarz, 
grau.
Sie 
bilden die dunkelsten Flächen,
ergänzt durch 
wenige
spiralige und 
wellenförmige,
kaum sichtbare 
Linien.
Das Kleid der Frau 
besteht
aus 
runden, kurvigen
und blumigen 
Formen,
im 
Kontrast zum goldenen Gesamteindruck,
frischen roten, violetten und 
grünen Farben,
mit wenigen, 
unscheinbar kleinen eckigen 
Formen.
Vereint, am Abgrund
Des Mannes Kopf beugt 
sich nach rechts
über das Gesicht der 
Frau.
Er hält 
es mit beiden Händen.
Die Frau biegt ihren 
Kopf nach hinten,
umfasst mit der Linken seine 
Rechte
und mit 
der Rechten seinen Hals.
Ein Umhang geht fliessend über in die Blumenwiese, die das Paar umgibt.
Die flächige grüne, 
violette und blaue Wiese
füllt das linke untere 
Drittel,
bis 
zur Mitte,
steigt leicht 
an,
fällt zum 
rechten Bildrand abrupt ab.
Der Hintergrund ist 
in Ocker,
eine 
Fläche ohne Tiefe.
Ein Nirgendwo.
Der Kuss
Mit nacktem 
Oberkörper,
den Kopf mit schwarzen 
Haaren,
das 
Gesicht von schräg hinten kaum sichtbar,
in dunkler Fleischfarbe, in 
extremer Aufsicht,
neigt sich der
Mann über das Gesicht 
der
Frau, die, 
zu uns gedreht,
in heller Fleischfarbe, mit 
roten Lippen und geschlossenen Augen,
abwartet.
Er packt sie, nimmt 
sie,
in 
Besitz.
Beide bilden eine Einheit und gleichzeitig eine Zweiheit.
Die Frau ist 
übermannt.
Ihre Hände könnten zärtlich 
sein,
aber 
auch abwehrend, sich schützend und verteidigend.
Alles in pures Gold 
getaucht,
Blattgold? 
Goldfarbe?
Vergoldet, nicht 
golden.
Überstrahlt, nicht 
strahlend.
Ornamental 
verspielt.
Verspielt – 
spielerisch?
Verspielt – 
verloren?
Ambivalenz überkommt 
mich.
Bilder, 
Sätze und Szenen von
Munch, Strindberg, Ibsen 
tauchen auf.
Liebe?
Zärtlichkeit, 
Innigkeit, Vereinigung.
Ja, ja, ja.
Aber auch
Bedrohung?
Bedrängnis?
Eroberung?
Besetzen?
Besitzen?
Verwalten?
Vergewaltigen?
Übermannt 
werden?
Ausgeliefert 
sein?
Gebraucht-, 
besitzt-werden?
Vergewaltigt-werden?
Uralte und aktuelle Dichotomie des Geschlechterkampfes.
Eine 
Klärung
des 
Widerspruchs deuten
der untere Teil 
an.
Das Paar steht und 
kniet am Abgrund.
Doch auf einer 
Wiese
mit 
Blumen.
„Der 
Kuss“
Ein 
existenzielles 
Sowohl – als 
auch!
Ein 
Traum.
Ein 
Wunschtraum? Ein Albtraum?