Cindy Shermans Antworten auf die Frage «Wer bin ich?»

In der Psychologie, Soziologie oder einer der verwandten Wissenschaften geht es immer wieder um die Fragen «Wer bin ich?», «Welche Rolle spiele ich?», «Wie stehe ich zu den andern?». Bücher liefern uns dazu Theorien, Künstler lassen uns dazu Situationen erleben. Doch nur selten gibt es Künstler, die diese Fragen so konsequent stellen und gültig beantwortet wie Cindy Sherman (52), eine der Ikonen der Weltfotografie.

Das Kunsthaus Bregenz zeigt, nach Paris und vor Berlin, deren Gesamtwerk und gibt dazu einen umfassenden Katalog heraus. Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagogen oder Sozialbegleiterinnen, die intensiv mit Menschen arbeiten, kann die Begegnung mit diesem Werk zu einer Schule des Sehens, des Erfahrens, des Verstehens werden – sei in der Ausstellung, sei es mit dem Katalog.

Das Werk von Sherman besteht nur aus Selbstbildnissen, und alle mit der Frage: Wer bin ich? Ihre Antworten räumen radikal auf mit dem Glauben an ein klar umschriebenes und beschreibbares Ich. Eine Situation, die uns von der Arbeit mit Klientinnen und Klienten nicht unbekannt sein dürfte; denn auch hier herrscht doch Relativität und Unklarheit. Über ein Vierteljahrhundert hat die Fotografin das Objektiv der Kamera auf das Subjekt ihrer Person gerichtet und darin immer neue Ausprägungen, Formulierungen ihrer selbst erfahren, erlebt – dahinter Allgemeingültiges erahnend ihnen Form gegeben.

In Rollen schlüpfen und fremde Gestalten spielen

Mit «Bus Riders» betitelt sie eine Serie kleinformatiger Fotos, die sie mit 22 begonnen hat. Halb amüsiert, halb boshaft stellt sie Menschen dar, die sie in den öffentlichen Verkehrsmitteln Buffalos beobachtet hat. Alle sind Teile von ihr, sie ist in allen präsent. Ab 1977 folgen die «Film Stills», mit denen sie weltberühmt wird. Sie verweisen auf Hollywood und brechen gleichzeitig mit der Traumfabrik. Mit den «Centerfoolds/Horizontals» von 1981, in welchen sie, in nah und aus der Vogelperspektive, liegend und in Pose und Mimik verängstigt gezeigt wird, bietet sie sich uns als Projektionsfläche an. 

Vor vielen Werken bekommt man den Eindruck, irgendetwas habe stattgefunden oder passiere gerade jetzt und wir wohnen ihm bei, obwohl es nicht für uns bestimmt sei. «Ich habe nicht das Gefühl, dass ich diese Person bin. Ich denke vielleicht an eine bestimmte Geschichte oder Situation, aber ich werde nicht zu ihr», meint sie, indem sie sich nochmals versteckt. Doch gerade hier offenbart sich ihre Kunst: in immer neuen Inszenierungen des eigenen Ichs, das immer mehr auch zu unserem wird. Die Fotos bilden nicht nur Cindy Sherman, sondern die Welt ab. Mit «Pink Robes» und «Fashion», Serien der 89er- und 90er-Jahre, wird sie natürlicher und bringt gerade damit den Beweis, dass auch das Natürliche nichts anderes als eine Verkleidung ist. «Die Verlockung des Voyeurismus schnappt zu wie eine Falle, bis der Betrachter merkt, dass die Künstlerin Sherman im Bündnis mit dem Modell Sherman eine Vorrichtung geschaffen hat, die den Blick unbehaglich werden lässt», meint Laura Mulvey.

Mit «Fairy Tales» und «Disasters» taucht die Künstlerin ab ins Unterbewusste. Ihre Märchen sind beunruhigend und albtraumhaft. Sie beginnt mit Schaufensterpuppen zu arbeiten, die in ihrer Abstraktion noch klarere Aussagen über das Unklare machen. Die monströsen Figuren erheben sich nicht mehr aus dem Schlaf der Vernunft, sondern öffnen die Schleusen für Ängste, Horror und die Absurdität des Lebens. Die tröstliche Inszenierung um die Figuren herum verschwindet allmählich, als würde die Künstlerin dem Betrachtenden auch die letzte Ablenkung und die leiseste Milde mit den zunehmend grotesker werdenden Figuren verweigern.

Körperteile werden durch Prothesen ersetzt, bis schliesslich nichts mehr übrig bleibt als Körperflüssigkeiten, Abfall, verrottete Lebensmittel, Erbrochenes, Schleim und Blut. Die Körper sind deformiert, schliesslich nur noch ein wirres Durcheinander von Haut und Haaren, was uns an Francis Bacon erinnert.

In die Abgründe von Gewalt und Sexualität tauchen

Wenn man in sich so intensiv wie sie ins Thema Gewalt und Sexualität vertieft, verschwinden schliesslich die Körper als Ganzes, zurück bleiben Fragmente, Füsse, Hände und Details von Kadavern, wie in «Civil War». Oder die Körper winden sich vor Schmerz oder Lust, bieten sich dem Betrachter in exhibitionistisch an. Die Puppen, die in aus der Kindheit stammen, werden Schauplatz für Gewalt, Perversion, Pornografie wie in den «Sex Pictures». Das Wesentliche liegt nicht mehr in der Pose, sondern im verstörenden Charakter der sexuellen Begierde. Eine beunruhigende Welt, angesiedelt zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem. Pier Paolo Pasolinis «Salo» bieten sich als Referenz an.

Nach 2003 lässt Cindy Sherman sich freien Lauf und bildet sich, der Logik ihres Werkes folgend, in weiblichen Clown-Figuren ab, verbirgt sich hinter deren Schminke, deren Grimassen, deren Spiel. Sie übernehmen die Rolle der Produzierenden, der Agierenden und bilden gleichzeitig ihre Reaktion auf die Welt, wie sie sie erlebt. Die Clowns stehen bei ihr wohl für das ganze traurige Schmierentheater, als das man die Weltpolitik erfahren kann. Sie stehen für das Lustspiel und das Trauerspiel, für das absurde Spiel des Lebens.

Ausstellung und Katalog

Wer die Ausstellung, die nur noch bis zum 28. Januar 2007 im Kunsthaus Bregenz www.kunsthaus-bregenz.at gezeigt wird, nicht mehr sehen kann, dem empfiehlt sich der Kauf des Katalogs. Er ist von Cindy Sherman selbst gestaltet und zeigt sämtliche Werkgruppen. 288 Seiten, 200 Fotos, gebunden, 24,5 x 28,5 cm, ISBN 2-08-0210051-349,90, 49,90 €.