Cyclope

Verrückt, poetisch und fantastisch: Von der Freiluftplastik «Le Cyclop» von Jean Tinguely inspiriert, realisierte eine Künstlertruppe ein Nouveau-Cirque-Spektakel, das in Winterthur bis Ende Mai, in Basel ab 10. Juli zu geniessen ist.

Der Ur-Schauplatz von «Le Cyclope» ist ein verlassener Rummelplatz. Hier lebt ein wunderlicher Einzelgänger: Ein Clown in seinem bunten Reich der Träume aus Zuckerwatte und wilder Mechanik, versucht mit Müh und Not, den Zerfall seines Reiches aufzuhalten. Als er sich eines Tages entscheidet, den Vergnügungspark für immer zu verlassen, erscheinen wie von Geisterhand gesteuert einige Artisten, Tänzerinnen und ein buntes Jahrmarktvölkchen. Sie versuchen, den liebenswürdigen Kauz zum Bleiben zu überreden und den Zirkus wieder in Gang zu bringen. Von einer schönen Fremden bezirzt, entschliesst er sich, der Idee der Geister zu folgen, aus den Überresten von Achterbahn, Karussell und anderem Spielzeug einen riesigen Kopf, den Zyklopen, zu bauen. Noch bevor dieser vollendet ist, geschieht das Unfassbare: Der Koloss erwacht zum Leben. Er denkt, fühlt und spielt. Ganz ohne Worte erzählt er eine Geschichte über die Macht der Fantasie, den kreativen Erfindergeist und die Zauberkraft des Spielens. Sie handelt davon, wie wichtig es ist, an die eigenen Träume zu glauben, sie zu verwirklichen und Grenzen zu sprengen.

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Der Ur-«Cyclop» ist ein Werk von Jean Tinguely, das zwischen 1971 und 1991 im Wald von Milly-La-Forêt südlich von Paris als Koproduktion verschiedener Künstler unter seiner Leitung entstanden ist. Die ersten Mitwirkenden waren Niki de Saint Phalle und Bernhard Luginbühl, gefolgt von Seppi Imhof und Rico Weber sowie Eva Aeppli, Daniel Spoerri und mit vielen andern, die eigene Werke beisteuerten. Diese begehbare Kopfskulptur von 22 Metern Höhe und einem Gewicht von 300 Tonnen ist ein theatralisch-circensisches Werk aus Stahl, Stein, Abfallmaterial und dem umgebenden Wald.

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Der «Cyclope» wird lebendig

Nachdem «Cyclope» das erste Mal 2012 in Biel auf dem ehemaligen Expogelände zu sehen war, treibt der Show-Zyklop weiter sein Unwesen: bis zum 27. April in der Fabrikhalle 52 am Katharina-Sulzer-Platz in Winterthur und ab 8. Juli als Freilichtaufführung in Basel. Während eineinhalb Stunden taucht er das Publikum in eine poetisch-verrückte Fantasiewelt. Am Faden einer wunderbaren Geschichte erlebt man Zirkus, Theater, Artistik, Pantomime, Clownerie, Licht- und Feuerspiele, Musik und Gesang: ein Gesamtkunstwerk vom Feinsten. Flaschenzüge bewegen Ringe und Taue hinauf und hinab, Kräne schwenken in der Höhe ihre Arme, Räder drehen sich, Scheinwerfer durchdringen den Raum, Blitz und Donner erfüllen die Halle mit Action, und über dem Ganzen schwebt eine Märchenwolke. An Stangen, Seilen und Schlappseilen, auf Sprungbrettern und Trampolinen, in Reifen und auf Kugeln turnen, spielen und verrenken sich Artistinnen und Artisten, begleitet von Musikern und Sängern in einem Spiel, das an Chagalls Träume erinnern lässt. Alles dreht sich um den Zyklopen, der zu neuem Leben erweckt worden ist.

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Circus pur

Ein Clown, er könnte Jean Tinguely heissen, führt durch den Abend. Und wie es sich gehört, muss dieser gegen die Tücken der Objekte kämpfen. So rollt ihm das Eingekaufte aus seinen Papiersäcken, stürzt eine Leiter um, bringen elektrische Kurzschlüsse die Beleuchtung durcheinander, beginnt ein TV-Bild zu flimmern, wie wir es aus der Frühzeit des Fernsehens kennen. Gegenstände bewegen sich wie von Geisterhand geführt. Veloteile werden am Schluss zu einem neuen Vehikel zusammengesetzt, dass ein Wasserspiel entsteht, das uns an den Tinguely-Brunnen vor dem Basler Theater erinnert. Und in dieser Welt der Komik und des Märchens agieren zwölf bunt gekleidete Artistinnen und Artisten wie in einer Welt der Schwerelosigkeit, begleitet oder unterbrochen von Licht-, Schatten-, Rauch- und Wasserspielen, von Blitz und Donner und dem Brummen und Fauchen des «Cyclopen», dessen Kopf während des Abends Stück um Stück entsteht.

Von leichter, doch meisterlicher Hand geführt

Alles, was es zu sehen und zu hören gibt, erscheint wie selbstverständlich, ist einfach da: Natur und Kunst zugleich. Doch dahinter steckt eine Riesenarbeit. Da gibt es eine Regie, die sorgfältig auf Timing, Rhythmus und die Reihenfolge der Nummern achtet. Schnelle Acts wechseln mit langsamen, laute mit leisen, Poesie zum Träumen mit Action zum Mitfiebern. Der riesige Raum wird in Besitz genommen und gefüllt. Bald handelt die Geschichte unten auf dem Boden, dann tummeln sich die Akteure vor dem Kabäuschen des Clowns, und schliesslich wirbeln sie irgendwo in der Luft oder auf oder im Zyklopen, seinen Ohren oder Augen, in oder auf den drei Meter grossen roten Lippen und schliesslich auf, vor oder über den zahllosen Rädern, Kugeln, Stangen, Stiegen, Netzen und Tüchern – und entlocken den Zuschauerinnen und Zuschauern Ahs und Ohs, helles Lachen oder leises Lächeln.

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Die Fäden des ganzen Spektakels kommen zusammen in den Händen des Regisseurs Philipp Boë und des Musikers Markus Gfeller, der Regieassistentin Jenni Arne, der für die Bühne verantwortlichen Daniel Waldner und Daniel Bäumlin, der Kostümdesignerin Eva Butzkies, des Maskenbildners Marc Hollenstein und der Choreografin Sabine Schindler sowie in besonderer Weise den Musikern und Sängern Benedikt Utzinger, Bruno Amstad, Christian Roffler und Derya Aydogdu, welche die Aktion in eine Klangwolke hüllen.

Getragen wird die Show von den Artisten: dem Clown Linz aus Deutschland, der Schwedin Manda Rydman, spezialisiert auf Luftring, Handstand und Kontorion, den Deutschen Iris Pelz und Christopher Schlunk mit ihrer Partnerakrobatik, dem Spanier Manel Rosés mit seinen Schleuderbrettaktionen, den Einlagen der Kanadierin Sarah Lett am Roue Cyr und Vertikalseil, dem Amerikaner Ethan Law auf dem Trampolin, Schleuderbrett, im Rou Cyr und am chinesischen Mast, Laura Tikka auf dem Schlappseil, Hillas Smith mit seinem Vertikaltanz, Avital Pöschko mit ihren Strapaten- und Vertikalseil-Darbietungen und Brice Massé mit seinem Seiltanz. Es wäre unfair, einzelne Personen hervorzuheben. Alle miteinander sind die wunderbaren Geister, die dem Zykloten – und dem Publikum – ein Leben als Traum für eineinhalb Stunden, einen Abend und wahrscheinlich viel länger einhauchen.

Fotos: André Juchli

http://www.cyclope2014.ch