Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade
Revolutions-Theorien, sinnlich erlebbar gemacht
1965 zeigte das Luzerner Theater als Erstes in der Schweiz das ein Jahr zuvor in Berlin uraufgeführte Stück «Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade» von Peter Weiss (1916 – 1982). Das 68er-Dokument, vor den Ereignissen in Paris, Berkely, Berlin und Zürich realisiert, war eine Sensation. Darin treten imaginär zwei revolutionäre Denker, die sich im Leben nie getroffen haben, gegeneinander an. Philosophen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Jean Paul Marat, der führende Kopf der Französischen Revolution und unerbittliche Kämpfer für absolute Gleichheit unter den Menschen, dessen Tendenz in direkter Linie zum Marxismus führt, und Marquis de Sade, extremer Individualist, radikaler Materialist, absoluter Nihilist und Zyniker, der die menschliche Natur von Grund auf für korrumpiert hält, da es für ihn keinen Gott und keine Moral gibt. Was ist aus den Revolutionen geworden? Diese Frage stellt das Stück 50 Jahre später nochmals in einer interessanten Inszenierung von Bettina Bruinier und in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste.
Welt im Irrenhaus
Charlotte Corday und Jean Paul Marat
Wenn das Publikum den Saal betritt, ist die Bühne offen, bis sie allmählich bevölkert wird von den Darstellerinnen und Darstellern, vornehmlich einem jungen Völkchen, darunter die Titelfiguren Jean Paul Marat, Marquis de Sade, Charlotte Corday, von Nebenfiguren und vier Sängerinnen. Viele sind sie mit Instrumenten, teils Konstruktionen skurriler Art, ausgerüstet und beginnen mit ihrer balladesken Rock-Oper. Sie führen das Publikum, im Sinne Brechts, durch die Geschichte, verraten auch mal, was geschehen wird. In verteilten Rollen erzählen sie vom gigantischen Zweikampf der berühmten Verkörperungen der zwei polaren Ideen hinter den Fragen nach dem Gelingen oder Misslingen der Revolutionen der Geschichte, konkret jener von 1789 bis 1799, der Juli-Revolution 1830 und der Februar-Revolution 1848 in Frankreich, mit gemeint sind stets die Revolutionen aller Zeiten und Länder.
Von der Badewanne aus, wo Jean Paul Marat die Schmerzen seiner psychosomatischen Hautkrankheit zu lindern versucht, postuliert der Volkstribun als fanatischer Wortführer des Vierten Standes, der besitzlosen Sansculotten, seine Vorstellungen der Revolution: für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, gegen die Heiligkeit des Eigentums und Ausbeutung! Ihm gegenüber agiert Marquis de Sade. Dieser «Galilei der menschlichen Seele» glaubt weder an Vernunft noch Fortschritt, weder an Gott noch Moral, sondern nur an Lust, Grausamkeit und Sexualität und lebt deren Schattenseiten auch vor dem empörten Volk, das im Kampf für Veränderung zum Kämpfen bereit ist. Der Schlagabtausch ist Inhalt einer Theateraufführung mit den Insassen der Heilanstalt Charenton, wo de Sade selbst fast ein Drittel seines Lebens wegen pornografischer Äusserungen und sadistischen Handlungen eingesperrt war. Die internierten Geisteskranken oder politischen Querdenker spielen die Ermordung des Revolutionsführers Marat durch die Landadlige Charlotte Corday. Regie führt, wie historisch belegt, Marquis de Sade.
Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade
Damals und heute
Die philosophisch-politischen Debatten des kompromisslosen Individualisten de Sade und des fanatischen Ideologen Marat über Sinn und Unsinn von Revolutionen «transzendiert» die Inszenierung in sinnliches, überbordendes, totales Theater, in ein Schauspiel. Dieses wechselt immer wieder die Zeit- und Diskursebene und verwendet dafür, nie selbstzweckhaft, mit Musik, Licht, Ton, Technik, Medien, Kostümen und Choreografie den ganzen Theaterraum und erreichen so das Publikum ganzheitlich. Alles Sichtbare und Hörbare, Gefühlte und Gedachte gründet auf einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Ereignis Revolution: zur Zeit der Französischen Revolution, in den 68er Jahren und heute. Erinnern können wir uns dabei an die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, dem Gezi Park, dem Maidan, die Kämpfe in der Ukraine, die Massaker in Gaza, das total zerstörte Syrien, den Arabischen Frühling, die Flüchtlingsströme aus Afrika, an Boko Hama und den Islamischen Staat sowie die weltweite Umkehrung aller Werte durch die Bankenwirtschaft und den wild gewordenen Kapitalismus. All dies ist mitgedacht, mitgefühlt, wird mitgespielt und macht betroffen im Herzen und verzweifelt im Kopf, denn die Menschen auf der Bühne machen uns zu Mitdenkenden, Mitfühlenden, Mitleidenden.
Marquis de Sade, Jean Paul Marat, Simonne Evrard, Charlotte Corday
Überzeugendes Gemeinschaftswerk
«Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade» in der neuen Aufführung des Luzerner Theaters ist für mich ein gelungenes Gemeinschaftswerk, weshalb ich keine einzelnen Schauspielerinnen oder Schauspieler besonders hervorheben möchte. Alle leisten, ob zum Luzerner Ensemble oder zu den Studierenden aus Zürich gehörend, ihren Beitrag zu einem gelungenen Gesamtkunstwerk unter der Leitung von Bettina Bruinier (Inszenierung), Claudia Rohner (Bühne), Justina Klimczyk (Kostüme), Stefan Paul Goetsch (Musik), Mohan C. Thomas (Choreografie), Peter Weiss (Licht) und Carolin Losch (Dramaturgie).
Entstanden ist ein Theater der Revolution und gleichzeitig ein Abend der Unterhaltung, ein Weltanschauungs-Duell und gleichzeitig eine Irrenhaus-Show. Wie nur selten werden in diesem Stück, glaubhaft und überzeugend Fragen nach einer neuen Revolution, nach politischen Veränderungen und nach Utopien gestellt. Dass dabei keine Antworten gegeben werden, ist vor allem aus der heutigen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Situation des Kamikaze-Kapitalismus verständlich. Wie nur selten ein Stück hat mich dieser «Marat/Sade» berührt, fasziniert und zum Denken angeregt. Luzern ist eine Theater-Reise wert. Das Premierenpublikum verdankte die Aufführung mit begeistertem Applaus.
Weitere Vorstellungen: 20., 22.,29. März, 2.11. April, 3., 24. Mai uns 3.Juni 2015
www.luzernertheater.ch