Die Welt sehen

Margrit & Ernst Baumann: Fotoreportagen 1945 – 2000

«Hunderte von Fotoreportagen haben sie verwirklicht: Margrit und Ernst Baumann sind durch Sandwüsten gefahren, durch Flüsse gewatet, auf Gletscher gestiegen und über Urwälder geflogen, sie haben Millionenstädte und winzige Dörfer besucht – und überall haben sie vor allem das Leben der Menschen beobachtet und festgehalten. Wie andere Fotoreporter ihrer Generation brachten sie das Bild der Welt in die Schweizer Wohnstuben, bevor das Fernsehen diese Aufgabe übernahm.» Soweit die Herausgeber des grossen Bildbandes «Die Welt sehen. Fotoreportagen 1945 – 2000»: Wilfried Meichtry und Nadine Olonetzky. Mit diesen Reportagen haben die beiden die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dokumentiert, gründlich und umfassend wie niemand anders in der Schweiz.

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Schreibunterricht in einer staatlichen Schule am Fuss des erloschenen Chimborazo-Vulkans, Ecuador, 1958. © Margrit und Ernst Baumann

Ein halbes Jahrhundert mit Bildern erzählt


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Panamahüte werden aus den Fächern der Toquilla-Palme hergestellt, die an der Westküste Ecuadors wächst. Sie werden gewaschen, mit Schwefel gebleicht und unter der Tropensonne getrocknet, Cuenca, 1958. © Margrit und Ernst Baumann

Nach dem ersten Kapitel mit Ausschnitten aus rund 200 Reportagen von 1957 bis 1959 über Trinidad, Venezuela, Ecuador, Bolivien, Peru, Chile, Argentinien, Kolumbien, Guatemala, Mexiko und USA, alle der «Panamericana» entlang, erzählt Meichtry faktenreich und anschaulich die Entstehung dieser Reportagen. Zusätzlich zu den Fotos entstand damals, mit einer 16-mm-Bolex aufgenommen, der gleichnamige Film. Zusammen mit einem Interview mit den beiden ist er als DVD dem Bildband beigelegt. Diese Bildreportagen informieren, d.h. setzen ins Bild, und unterhalten, d.h. geben der Seele Unterhalt.

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Margrit und Ernst Baumann auf ihrer Reise entlang der Panamericana, 1957 – 1959, Kolumbien, 1958. © Margrit und Ernst Baumann

Der schön gestaltete Band enthält im ersten Teil Auszüge aus den Reportagen des Berner Fotografenehepaares Margrit und Ernst Baumann (1928 bzw. 1929) aus dem Zeitraum von 1948 bis 1964: über Jordanien, Pakistan, Indien, Sri Lanka, Kambodscha, Malaysia, Borne, Hongkong, Korea, Vietnam, Thailand, Kuba, Mexiko, USA, Österreich, Jugoslawien, Türkei, Syrien und die Schweiz. Hier vom Autorennen um den Bremgartenwald, vom Lawinenunglück in Airolo, der letzten europäischen Dragoner-Kavallerie, von Louis Armstrong und Charles Chaplin, vom Kinderdorf Pestalozzi, dem Eidgenössischen Institut  für Schnee- und Lawinenforschung, einen religiösen Brauch im Saas-Tal sowie Bergbauern und Fabrikarbeiter, über das Centovalli, die Zwischenkriegszeit, die Strafanstalt Hindelbank und die Walliser Gemeinde Unterbäch, wo die Frauen abstimmen konnten, als dies in der «Üsserschwitz» noch verboten war usw. usf.

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Der Kapellenweg zwischen Saas-Grund und Saas-Fee zeigt in 15 kleinen, 1708 bis 1711 erbauten Kapellen Szenen der drei Rosenkränze. Die aus Holz geschnitzten und bemalten Figuren werden 1956 bis 1958 restauriert. Margrit Baumann dokumentiert den Transport ins Tal. Saas-Fee, 1956. © Margrit und Ernst Baumann

Anschliessen erzählt Meichtry von den ersten Reisen und den Aufträgen der beiden und umreisst damit den historischen Hintergrund zu den vorgestellten Reportagen. Der Fotohistoriker Markus Schürpf ordnet in seinem Text ihr Werk in die Schweizer Foto- und Pressegeschichte ein: Wichtige Informationen für die aktuelle Medienwelt, in welcher das Fernsehen die Aufgabe der Fotoreportage übernimmt und mit seinem Angebot das Publikum vielfach zu einem oberflächlichen Medienkonsum verführt.

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Die akrobatischen Fähigkeiten der berittenen chilenischen Polizei. Menschenpyramide als Pferdehürde, Santiago de Chile, 1958. © Margrit und Ernst Baumann

Als Faksimili folgen dann im Buch zwanzig Seiten Originalreportagen, wie sie in «Sie und Er», dem «Gelben Heft», dem «Blatt für Alle», «Der Schweizerischen Allgemeinen Volks-Zeitung», im «Tages-Anzeiger» oder der «Neue Zürcher Zeitung», im «Brückenbauer», im «Du» oder im «Stern» erschienen sind.

1983 trennen sich Margrit und Ernst Baumann und schufen fortan keine gemeinsamen Reportagen mehr, sondern arbeiteten mit andern zusammen. Es entstanden Arbeiten über die Sowjetunion, China, Nepal, Bali, Usbekistan, Türkei, Bangladesch, Russland, Äthiopien, Namibia, Marokko, Madeira, Philippinen, Südchina und immer wieder über die Schweiz, beispielsweise über das Hirtenleben in Hinterkappelen.

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Der Nachwuchs für die grossen Fussballklubs wird in Spielen entdeckt, die Sonntag für Sonntag in staubigen Dörfern stattfinden, Südperuanische Wüste, 1958. © Margrit und Ernst Baumann

Humanisten an der Kamera

Was hat sie bei ihrer Arbeit angetrieben? «Die Neugier auf die Welt und den Menschen», sagt Margrit, «der Hunger nach Erkenntnis», meint Ernst. «Wir wollten sehen, wie andere Menschen leben, wie sie denken und fühlen.» Als junger Mann habe er das grosse Ziel gehabt, den Dingen auf die Spur zu kommen und herauszufinden, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Für Margrit war es wichtig, dass ein echter Austausch mit den Menschen stattfand. «Ich ging auf die Leute zu und habe ihnen auch von mir erzählt.»

Das reiche und vielfältige Werk umfasst – ich folge hier dem Aufsatz «Fotoreporter im Zeitalter des Fernsehens», mit dem Meichtry den Band abschliesst – mehr als ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte. Es sind also Dokumente einer vergangenen Zeit, welche viele von uns miterlebt haben. In ihrer Grundhaltung, wie sie die Welt abbilden, sind sich die beiden verwandt geblieben: Beide waren und sind bis heute engagierte Beobachter des Zeitgehens, denen es nie um Sensationen, sondern immer um den Alltag der Menschen an den verschiedensten Orten dieser Welt ging.

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Dorffest in Baruta, Venezuela. Die Stierkämpfe werden im Korral, einem speziell dafür gebauten Graben, ausgetragen, Baruta, 1957. © Margrit und Ernst Baumann

Die Ästhetik der Bilder stand bei ihnen nie im Vordergrund. «Wir waren Handwerker», sind sie sich einig, «es ging uns nie um schöne Bilder, sondern immer um das Erfassen der vorgefunden Realität.» Durch ihre Reportagen wollten sie mit ihrer Anteilnahme auch für Schwächere und Benachteiligte einstehen und auf Missstände aufmerksam machen. Eine sensible Balance zwischen Neugier und Achtung bestimmte das Verhältnis zu ihren Themen, die immer wieder von ungelösten Problemen dieser Welt handeln.

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Che Guevara hält als Industrieminister Kubas die Einweihungsrede der Fabrik, Sangue de la Gran, 1964. Ernst Baumanns Porträts gehören zu den wenigen farbigen Aufnahmen, die von Che Guevara existieren. © Margrit und Ernst Baumann

Rückblick in Dankbarkeit und Zufriedenheit

«Etwas muss man einfach sagen», betont Ernst, «wir haben Glück gehabt, unglaubliches Glück, ein ganzes Leben lang.» Eine eigentliche Bilanz ziehen aber könne er und wolle er nicht, sagt er und fragt sich nach kurzem Nachdenken dann trotzdem, ob es vielleicht die zwischenmenschlichen Beziehungen seinen, die das Leben ausmachen. «Ich habe ein gutes Leben gehabt», meint Margrit, «wirklich.» Sicher, einiges würde sie heute anders machen. «Ich würde vielleicht hie und da links statt rechts gehen, weil es links etwas gibt, was ich nicht gesehen habe.» Und nach einer kurzen Pause fügt sie mit leuchtenden Augen an: «Ja, das Leben ist schön.»

Dem kann man nur beipflichten angesichts dieses grossartigen Oeuvres. Ein Teil davon liegt jetzt vor im Band «Die Welt sehen». Dieser versetzt uns immer wieder in die Vergangenheit zurück, lässt uns dort in Erinnerungen schwelgen. Er entführt uns aber auch in fremde Länder und zu fremden Kulturen, was uns bereichert. Ein Band zum immer wieder mal darin Blättern!

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Margrit und Ernst Baumann, 2010. © Wilfried Meichtry

Margit & Ernst Baumann: Die Welt sehen. Fotoreportagen 1945 – 2000. Herausgegeben von Wilfried Meichtry und Nadine Olonetzky. Mit einem biografischen Text von Wilfried Meichtry, einem fotohistorischen Beitrag von Markus Schürpf und Texten zu den Bildern von Nadine Olonetzky. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2010. 288 Seiten, viele schwarz-weisse und farbige Bilder. Beigefügt ist eine DVD mit dem Film «Panamericana» und einem Interview mit dem Fotografenpaar. Fr. 99.-.