Ein Vielgereister kehrt heim
«Wie die Arche Noah auf den Napf kam» von Al Imfeld
Der Autor dieses Buches ist in vier Kontinenten und in vier Wissenschaften zuhause. Mit diesem grossen Erfahrungswissen kommt er aus der grossen, weiten Welt in die kleine Welt seiner Kindheit, in die Dörfer und Landschaften am Napf zurück – und es wird eine grosse Welt. Der schmale Band mit 29 kurzen Texten ist eine Fundgrube höchst unterhaltsamer und anregender Geschichten aus der Vergangenheit. Ein Ereignis!
Angekommen in Luthern, Buttisholz und Beromünster
Wie ein buntes Mosaik breiten sich Imfelds Kindheitsgeschichten aus dem Luzerner Hinterland der Dreissiger- und Vierzigerjahre aus. Humor und Wehmut halten sich die Waage in dieser Welt von einst: Als links und rechts der Kreuzstiege in Hergiswil und Luthern noch zwei verschiedene Zeiten eingeläutet wurden, als die Käserei in Buttisholz einging, die Wirtshäuser der Roten und der Schwarzen verschwanden und wie aus seinem Dorf eine Ortschaft wurde. ER erklärt die Vergangenheit, doch er verklärt sie nicht. In seinen Erzählungen kommen auch Dürren vor, gibt es Kinderarbeit, führen die Bettelmönche eine Armenküche und gibt es die abgeschlossene Welt der Feudalherren. «Heute nenne ich es die gute alte Zeit und werde aus der Ferne gar nostalgisch, denn es ist der Ort meiner Kindheit. Und als Kinder hatten wir wenig von der Zänkerei und dem gegenseitigen Futterneid mitbekommen. Doch heute höre ich bei jedem Besuch Geschichten darüber, wie man sich damals gehasst habe und am liebsten ab und zu dem anderen die Bude angezündet oder ihn oder auch sie gar umgebracht hätte», kommentiert er sein Werk.
Al Imfelds Kurzbiografie als Einführung
Wie ein buntes Mosaik breiten sich Imfelds Kindheitsgeschichten aus dem Luzerner Hinterland der Dreissiger- und Vierzigerjahre aus. Humor und Wehmut halten sich die Waage in dieser Welt von einst: Als links und rechts der Kreuzstiege in Hergiswil und Luthern noch zwei verschiedene Zeiten eingeläutet wurden, als die Käserei in Buttisholz einging, die Wirtshäuser der Roten und der Schwarzen verschwanden und wie aus seinem Dorf eine Ortschaft wurde. Er erklärt die Vergangenheit, doch er verklärt sie nicht. In seinen Erzählungen kommen auch Dürren vor, gibt es Kinderarbeit, führen die Bettelmönche eine Armenküche und gibt es die abgeschlossene Welt der Feudalherren. «Heute nenne ich es die gute alte Zeit und werde aus der Ferne gar nostalgisch, denn es ist der Ort meiner Kindheit. Und als Kinder hatten wir wenig von der Zänkerei und dem gegenseitigen Futterneid mitbekommen. Doch heute höre ich bei jedem Besuch Geschichten darüber, wie man sich damals gehasst habe und am liebsten ab und zu dem anderen die Bude angezündet oder ihn oder auch sie gar umgebracht hätte», kommentiert er sein Werk.
Al Imfelds Kurzbiografie als Einführung
1935 als ältester Sohn einer Bergbauernfamilie mit 13 Kindern geboren. Soll studieren und Missionar werden. Der Vater lehrt ihn bereits als Kind, «stets nur die Hälfte zu glauben». Er wird Priester, beim theologischen Doktoratsstudium in Rom jedoch der Häresie verdächtigt und abgewiesen. Doktoriert in den USA in evangelischer Theologie. Er interessiert sich für vergleichende Religionswissenschaft. Weil ihm die Theologie für das Verständnis der Gegenwart zu begrenzt ist, studiert er Soziologie, Journalismus und Tropenlandwirtschaft. Er gilt als einer der seltenen «Renaissancemenschen» der heutigen Schweiz.
Anfangs 60 arbeitet er mit Martin Luther King in der Bürgerrechtsbewegung, wird dafür von Kardinal Spellmann exkommuniziert, arbeitet als freischaffender Priester weiter, wird weitere Male suspendiert. Nach Abschluss an der Medill School of Journalism geht er für die Washington Post als Sonderkorrespondenten in den Vietnamkrieg. Doch selbst für diese Zeitung sind seine Berichte zu kritisch und «un-amerikanisch».
1967 schickt ihn die Missionsgesellschaft Immensee, wo er, wie ich, am Gymnasium war, nach Rhodesien, um dort beim Aufbau der Presse mitzuwirken, wird nach zwei Jahren des Landes verwiesen, weil seine Tätigkeit weder der weissen Minderheitsregierung noch seinem Bischof passt. Reist in die bereits unabhängigen Länder Malawi, Tanzania und Kenya. Von der Kirche wie den neuen Nationalstaaten wird er verwünscht, weil er eine nachhaltige Bekämpfung des Kolonialismus in den eigenen Reihen und in den Köpfen fordert.
Er beendet sein Studium in Tropenlandwirtschaft und postuliert eine Jahrtausend alte afrikanische Agrargeschichte. Die amerikanischen Professoren belächeln ihn. Er hilft die weltweite Ecofarming Bewegung gründen und ist noch heute der Ansicht, dass Öko-Landbau idealer und humaner ist als Bio-Landwirtschaft. Anfangs der 70er Jahre wird er von drei privaten Hilfswerken nach Bern geholt und gründet den Infodienst Dritte-Welt, kämpft für besseren Journalismus und ein Bewusstsein für Entwicklungsfragen in nachkolonialer Zeit und wird 1976 als zu unkonventionell entlassen. Hans A. Pestalozzi holt ihn ans GDI, beide fallen der Migros Leitung zum Opfer, weil sie die kostbaren Infos auch Basisgruppen, nicht nur Managern, zukommen lassen wollen.
Danach reist er und schreibt, hält Vorträge und nimmt Aufträge fürs deutsche Goethe-Institut in Afrika und Asien an, arbeitet in der Redaktion von epd-Entwicklungspolitik in Frankfurt und setzt sich ein, dass Kultur, Literatur und Kunst als zentrale Bestandteile jeder Entwicklung begriffen werden. Wird Mitbegründer der Gesellschaft zur Förderung der Literatur in Afrika, Asien und Lateinamerika. 1990 tritt er in den Kreis der Literatur ein. Zirkus Theater Federlos nimmt ihn als Geschichtenerzähler auf Tournee nach Namibia und Zimbabwe mit. Gedichte, die er seit langem schreibt, sind für ihn eine Form des Gebets. In seinen live vorgetragenen Geschichten verbindet der Sänger aus dem Napfgebiet die erste Heimat in der Schweiz mit der zweiten Heimat in den Entwicklungsländern Afrikas. – Mehr über sein Leben und Werk: www.alimfeld.ch.
Über ein paar seiner Sätze nachgedacht
Im Bändchen wimmelt es von originellen Szenen und klugen Formulierungen, von scharfsinnigen Beobachtungen und berührenden Erinnerungen – und immer mit hohem Unterhaltungswert. Dennoch lohnt es sich, jede einzelne seiner Geschichten nach ihren Haupt- und Nebenaussagen zu befragen. Ich versuche es stellvertretend mit dem folgenden Abschnitt: «Mein Vater bemerkte oft etwas bissig: Gottlob haben wir die Missionare, denn diese zerren uns in die weite Welt hinaus. Von Bekehrung halte ich zwar nichts. Was aber zählt: Sie haben uns letztlich immer wieder die Augen geöffnet. Vielleicht braucht es die Missionare bald nicht mehr, wenn die Radiowellen die Welt zusammenbringen (…) «Gleich hinter dem Napf im Süden befand sich dank reger Missionstätigkeit der katholischen Kirche der Kontinent Afrika, und auch Asien war nicht weit.»
«Der Vater bemerkte etwas bissig»: Der Vierzig- oder Fünfzigjährige, der für dreizehn Kinder arbeitet und sorgt, säuselt nicht, er spricht Klartext, wenn nötig bissig, auch wenn er aneckt. Dem Vater folgend hat Al sein Leben lang Dinge gesagt und gemacht, deretwegen man ihn rausschmiss oder exkommunizierte. «Gottlob haben wir die Missionare, denn diese zerren uns in die weite Welt hinaus.»: Der kirchenkritische Vater, dem der Sohn darin folgt, unterscheidet exakt: Das gewaltsame in-die-Welt-hinaus-Zerren ist für ihn nötig, um offen zu werden für das Andere, Fremde, das Wesentliche, was Al ein Leben verfolgt. «Von Bekehrung halte ich zwar nichts.» Warum wohl? Ich denke, weil Bekehren immer Kehren, Umkehren bedeutet, in eine Richtung, die andere für mich bestimmen, was manipulieren, verführen bedeutet und unmenschlich ist, weil ein Subjekt ein anderes Subjekt zum Objekt macht, wie es später Sartre und Freie formulieren. «Was aber zählt: Sie haben uns letztlich immer wieder die Augen geöffnet.» Für den Realisten Imfeld zählt, was die Augen öffnet. Ein veritabler Aufklärer muss dieser Vater am Fusse des Napfs gewesen sein. Er will mit offenen Augen die Welt erforschen. Auch in der klassischen Bildung der Missionare schlummert noch etwas Aufklärung, die wohl auch Al, wie ich, im Missionshaus erlebt hat. «Vielleicht braucht es die Missionare bald nicht mehr, wenn die Radiowellen die Welt zusammenbringen.» Der Bauer im Luzerner Hinterland hat dasselbe gemeint, was später McLuhan das «Global Village» nennt. Welch eine Offenheit und Weitsicht der Moderne gegenüber! Ich kann ihm immer wieder folgen, wenn Kunst, etwa Filme die Rolle der Bibel übernehmen. Bei Bergman, Fellini, Angelopoulos, Kurosawa, Tarkowski oder aktuell Kaurismäki mit «Le Havre». «Gleich hinter dem Napf im Süden befand sich dank reger Missionstätigkeit der katholischen Kirche der Kontinent Afrika, und auch Asien war nicht weit.» Welch eine Vorausschau! Der Vater von Al hat die Globalisierung vorausgesagt und als eine positive Entwicklung für die Menschheit beschrieben, nicht als das, als was sie heute daherkommt, als wild gewordener globaler Kapitalismus. Eine utopische Entwicklung, für welche sich sein Sohn Al ein Leben lang engagiert.
Das waren nur ein paar Sätze, die ich etwas auszuleuchten versuchte. Das Buch ist voll davon, ohne je theoretisch oder abstrakt zu werden. Al Imfeld erschafft in seiner einfachen und doch wunderbaren Sprache eine kleine, in Wirklichkeit jedoch grossartige Welt.
Meine persönliche Quintessenz
Der Dichter-Philosoph Al Imfeld kommt mit diesem kleinen Buch in seine alte Heimat zurück und schaut sich um, Anteil nehmend, freundschaftlich, zärtlich, liebend. In diesem Werk nimmt er die kleine Welt genau so ernst wie in andern die grosse. Seine Schau der grossen und der kleinen Heimat zeichnet sich durch eine Offenheit und Toleranz aus. Sie ist nie einschränkend und ausgrenzend wie bei jenen, die unser Land abkapseln und sich einigeln, ängstlich um ihr Wohl besorgt, bis sie schliesslich daran verhungern, verdursten und ersticken.
Al Imfeld: Wie die Arche Nah auf den Napf kam. Kindheitsgeschichten aus dem Luzerner Hinterland. Rotbuchverlag, Zürich 2011, 157 Seiten, Fr. 24.90