Einsiedler Welttheater 2013

Das Einsiedler Welttheater holt das religiöse Werk des Barockdichters Calderón in einer modernen Adaptation von Tim Krohn und Beat Fäh gültig in unsere profane Jetzt-Zeit.

In zehn bewegenden Bildern erzählt das Einsiedler Welttheaters 2013 das Mysterienspiel «El gran teatro del mundo» von Pedro Calderón de la Barca aus dem Jahre 1655. Dieses Jahr mit Tim Krohn (Buch) und Beat Fäh (Regie) auf der Bühne und mit den Kostümen von Caroline Mittler, in der Choreografie von Jo Siska und der Musik von Carl Ludwig Hübsch. Es dreht sich um Grundfragen des Lebens, diesmal konkret und aktuell den Wahn des Menschen, perfekt zu funktionieren und letztlich ewig zu leben, was Medizin und Gentechnologie versprechen.

9467_Welttheater_033.jpg

Zehn Bilder, die begeistern und berühren

Das Spiel beginnt mit dem Glockenklang der barocken Klosterkirche, abrupt abgebrochen durch den Lärm heulender Düsenjäger, auf der Klostertreppe mit dem Prolog der Strassenfeger, vor orangefarbenen Zementmischern, mobilen Toiletten, Absperrbändern und zwei riesigen Baukränen: auf der Baustelle, wo Menschen gemacht und umgebaut werden sollen. In Anknüpfung an den Schluss von Thomas Hürlimanns Welttheater 2007 mit der Weissagung, eine Flut werde unser Zeitalter beenden, erscheint ein Kind, eines der missgestalteten Kinder, die «in früheren Zeitaltern im See ertränkt wurden», und erzählt, dass es der Flut entronnen sei. Das verwirrt die Dorfbewohner. Die Hauptfiguren, Calderóns Figuren nachempfunden, treten auf: eine Bauernfamilie, ein Parlamentspräsident, ein Industriemanager, ein Penner, ein verliebtes Paar, ein Kranker, ein Geistlicher, eine Einsiedlerin. Alle in ihren Alltag verstrickt, verbindet sie mit dem rätselhaften Kind eigene Sehnsüchte und die Angst, aus ihrem Leben nicht genug gemacht zu haben.

Wie einen Hoffnungsfunken kündigen Ärzte eine neue Schöpfung an: Wir manipulieren das menschliche Erbgut, perfekte Menschen werden entstehen! Als Gott-Menschen betreten sie nicht die Bühne, sondern die Baustelle der Welt. Den Traum von der Überwindung des Elends, des Leids, der Krankheit zu realisieren, weckt grosse Hoffnungen. In einer fantastischen Szene werden Erwachsene von einer Himmelshirtin in ewig Jugendliche verwandelt. Der Handel mit den perfekten Genen explodiert. Die Geistlichen sehen ihren Einfluss schwinden. Unberührt von all dem bleibt allein das Liebespaar Leni und Luki, die nur daran denken, selbst Kinder zu zeugen, selbstverständlich «die schönschtä, beschtä, gsündschtä». Das neue Heilsversprechen treibt immer groteskere Blüten, so will eine Spitzensportlerin von zwei Jugendlichen einen Embryo für eine Stammzellentherapie. Nun schürt die Wissenschaft auch beim Liebespaar Angst vor einem behinderten Kind. Nur der Penner bleibt zufrieden. In einer zornigen Rede erinnert Pater Clemens die Leute daran, dass Menschen ohne Schwächen und Fehler keine vollkommenen Menschen sind. «Nöd jede Hick i dr Birä isch ä Chranked. Äs Gsicht ohni Narbä isch käs mänschlichs Gsicht.»

5656_Welttheater_030.jpg

Das Kind aus dem See stellt Clemens naive, schöne, kluge Fragen: Warum sind die Menschen unglücklich? Kann es gut sein zu leiden? Ist es schlecht, nicht leiden zu wollen? Dieser erzählt ihm, dass jede Schöpfung auch eine Zerstörung ist, dass für jede neue Welt eine alte sterben muss. Unerwartet stürzt der Präsident über eine Stufe und stirbt, verärgert, weil er keinen grossartigen Abgang hat. Das gibt einen Riss in die Aufbruchseuphorie. Was soll der ganze Wahn, wenn das Ende so banal sein kann? Die Enttäuschung über die ausbleibende Erlösung führt zu Exzessen, selbst die Maschinerie, die eben noch perfekte Jugendliche produziert hat, gebiert nur noch Ungeheuer. Dennoch versammeln die Familien ihre verunstalteten Mitglieder. Der Reiche muss erkennen, dass der Penner der Erlösung näher ist als er, den die Angst vor der Alzheimererkrankung fast um den Verstand bringt.

Das ungeborene Kind des Paares hat die Diagnose «zystische Fibrose». Ausgerechnet Leni ist es, die sich jetzt nicht mehr vorstellen kann, es abzutreiben. Die Ärzte warnen vergeblich, jetzt spricht das Herz. Lenis und Lukis Ahnen, Menschen mit Makeln und Beschädigungen, unterstützen sie. Der Reiche hat im Penner, einem schrägen Vogel, einen Freund gefunden. Der mutige Entscheid der werdenden Mutter für das imperfekte Leben hat für kurze Zeit alle verwandelt. Doch schnell schon kehrt der Alltag zurück. Während das Kind gemeinsam mit der Theatertruppe der geistig Behinderten in einer fantastischen Szene die Apokalypse spielt und schliesslich in Feuer und Rauch aufgeht und zum Himmel schwebt, beginnt im Städtchen das Aufräumen. Die Strassenfeger gehen an der Arbeit.

8385_Welttheater_024.jpg

In Bilder verwandelte Ideen und Worte

Ein faszinierendes Spektakel ist das diesjährige Einsiedler Welttheater. Gelegentlich denkt man zwar an «Karls kühne Gassenschau», dann aber wieder an Filme von Fellini. Die Texte in witzigem, deftigem Hochdeutsch und Dialekt evozieren bei den andern engagierten Künstlern und beim Publikum Bilder, die zu Sinnbildern werden. Die Ideen und Sätze werden getanzt, gespielt, gesungen, gesprochen, projiziert, videografiert, ertönen als Musik oder Motorenlärm, verwandeln sich in Bilder, die, im Gegensatz zu Worten, offen und vieldeutig sind – und von uns Antworten verlangen.

«Gott ist tot», liess Thomas Hürlimann in seiner Bearbeitung des Einsiedler Welttheaters 2000 verkünden. In der überarbeiteten Version von 2007 trat dieser Gott gar nicht mehr als Autor im Sinn der Calderónschen Vorlage auf. Bei Tim Krohn nun übernehmen die Götter in Weiss, die sich göttliche Eigenschaften anmassen, diese Rolle. «Also sprechen wir Klartext: Der Mensch, jeder Einzelne von uns, ist nach einem Bauplan geschaffen», sagt jetzt nicht der Schöpfer, sondern verkündet die Chefärztin, sekundiert von einem Heer Weissgewandeter. In jedem Bauplan gibt es, so meint sie weiter, «Abschreibfehler, die Leid verursachen». Der Mensch wird zum Übungsfeld für die Gott-Menschen der Medizin und der Genetik, im Anschluss auch der Wirtschaft, Politik und Justiz.

Gestalt verleihen diesen Ideen dreihundert begeisterte und begeisternde Laiendarstellerinnen und -darsteller, unterstützt von fast nochmals so vielen hinter und neben der Bühne. Auch dieses Jahr scheint die Bevölkerung von Einsiedeln und Umgebung das Theaterfieber erfasst zu haben. Viele Menschen kommen ja im realen Leben auch auf der Suche nach Antworten nach Einsiedeln. Die Mitwirkenden des Einsiedler Welttheaters wollen Denkanstösse vermitteln für die Fragen des Lebens, sollen diese wieder denkbar machen. An die Stelle des christlichen Schöpfer-Gottes sind dieses Jahr zwar die Gott-Menschen der Medizin und Gentechnik getreten – oder allgemeiner: der Mensch, der meint, er sei allmächtig, wo er doch wissen müsste, dass er weder allmächtig, noch ohnmächtig, sondern halbmächtig ist. Ob man sich dabei mit dem Rezept von Pater Clemens, «D Fähler z gseh, mit nä z lebä und über sie z siigä, das macht dr rächtschaffeni Mänsch uus», begnügen kann, möchte ich bezweifeln. Wie in einem mittelalterlichen «Memento» heisst es gegen Schluss auf Transparenten «Tue recht, denn Gott ist Gott», wenn die Buchstaben der Schrifttafeln in ihrem Auf und Ab auch zum Teil etwas unsicher, fragend tanzen ...

Das Publikum bedankte sich bei der – arg verregneten – Premiere bewegt und begeistert.

http://einsiedler-welttheater2013.ch