Endzeit in den Bergen

Das vom Theologen und passionierten Theatermann Giovanni Netzer gegründete «Origen – Festival Cultural» schlägt Brücken zwischen Geschichte, Mythen und Gegenwart: aktuell mit «Noah» auf dem Staudamm Marmorera.

Der Klimakollaps steht bevor. Eine sichere Arche soll die Menschheit vor dem Ertrinken retten. Doch es ist zweifelhaft, ob das Vorhaben gelingt. Ohne Worte, nur mit dem Schlusslied «Las Mintinedas da Murmarera» stellen elf Tänzerinnen und Tänzer mit einer eindringlichen Musikkomposition von Lorenz Dangel, unter der Gesamtleitung von Giovanni Netzer, diese Sintflut-Geschichte auf die Bühne, die die Welt bedeutet, auf den Marmorera-Staudamm, 65 Meter über dem Dorf, das 1954 überflutet worden ist.

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Der Boxer (Adrien Boissonnet), der in der Gesellschaft keinen Anschluss findet.

Kapitän Noah steuert das Schiff. Böse Ahnungen steigen in ihm auf, denn er erinnert sich an den Tod seines Bruders, der als Kind ertrank und nie gefunden wurde. Die Gäste kommen als Repräsentanten der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an Bord. Matrosen geben Hinweise zum Start der Arche. Ein Diktator und seine traumatisierte Gattin besteigen das Schiff. Ein Popstar wird von seiner Agentin zum Auftritt gedrängt. Eine Königin verliert ihre Macht und quält als einzigen übriggebliebenen des Hofstaats ihren Butler. Ein Boxer sucht verzweifelt Anschluss bei den andern. Ein blinder Passagier klettert über Deck, er erinnert den Kapitän an seinen vermissten Bruder.

Der Wind setzt ein. Störzeichen verunsichern die Passagiere. Der Butler entmachtet die Königin. Der Diktator schlägt seine Frau. Der Popstar zwingt die Agentin auf die Bühne. Die Wut des Diktators entlädt sich am blinden Passagier, den er schliesslich erschlägt. Der Kapitän trauert um den verlorenen Bruder und weigert sich, das Boot zu steuern. An Bord bricht Panik aus. Die Nerven liegen blank. Die Passagiere sind gegeneinander aufgebracht im Kampf ums Überleben. Alarmzeichen künden die bevorstehende Flut an. Alle haben sich gegenseitig umgebracht. Der Kapitän verlässt das Totenschiff, bevor es sinkt. (Die Inhaltsangabe vor sich zu haben, hilft, die Tanzperformance voll zu verstehen und zu geniessen.)

Eine Vision, die fesselt und herausfordert

Mit «Noah» hat Netzer die Sintflut des Alten Testaments als Endzeitstück in die heutige Zeit versetzt: als Mysterienspiel jenseits kirchlicher Normen, doch nicht ohne religiöse Dimension. Denn es betrifft die ganze Welt, das ganze Leben und verbindet Unten mit Oben, ganz im Sinne von «religio». Wenn in der Bibel unschuldige Tiere in die Arche steigen, die gerettet werden sollen, so sind es hier und jetzt in «Noah» schuldige Menschen, die ihr Leben verwirkt haben, welche die Arche besteigen und – wahrscheinlich – untergehen. Durch die eindringliche Verkörperung der verschiedenen Rollen menschlicher Existenzen können wir uns, wenn überhaupt, nur mit Mogeln der Identifikation entziehen. Denn wir alle gehören zu dieser Menschheit, deren Wirtschaft von den Kriegen lebt, dieser Menschheit, die den Nachkommen die Meere als Kloaken und die Landschaften als Schrotthaufen hinterlässt. Wir gehören zu einer Menschheit, die Religionen erfunden haben, die legitimieren, uns gegenseitig umzubringen. – Solche und andere Gedanken kommen einem, wenn man sich mit den Figuren identifiziert: mit dem Diktator, seiner traumatisierte Gattin, dem Popstar, seiner Agentin, der entmachteten Königin, ihrem Butler, dem einsamen Boxer und dem blinden Passagier, von denen es überall auf der Welt zahllose gibt, die vergessen werden.

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Der Kapitän (Wolfgang Tietze) und der blinde Passagier (Maurus Leuthold)

Was am Ende des Stückes bleibt, ist ein Schlachtfeld, auf dem der Kapitän andächtig, ja zärtlich wie in einem Begräbnisritus die Toten begräbt. Wenn wir schon nicht anständig leben, sollen wir wenigstens anständig als Tote daliegen. Für wen? Wozu? Allein schon diese unbeantworteten Fragen zeigen die Absurdität des diesseitigen Lebens, dessen Elend und Leid oft mit dem Jenseits erklärt, entschuldigt und beschönigt wird.

Der Abend, den der künstlerische Leiter mit einigen erklärenden Worten einleitet, katapultiert einen, pianissimo beginnend, über immer stärkere Crescendi an die Grenzen des Denkens und zu den Abgründen des Lebens. Zu einem ähnlichen Schluss kommt August Strindberg in «Fräulein Julie»: «Es ist schade um den Menschen.» Und Samuel Beckett sträubt sich aus einer ähnlichen Haltung dagegen, stets vom «Leben nach dem Tode» zu sprechen, wo «das Leben vor dem Tode» uns doch aufgetragen ist. – Jeder und jede wird andere Antworten auf die gestellten Fragen finden, d. h. seinen, ihren Beitrag leisten zur Vollendung des Werkes, das die Künstler auf, hinter und vor der Bühne begonnen haben. «Noah» ist, wenn wir mittun, ein wirklich grosses Werk!

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Am Schluss gibt es wie auf einem Schlachtfeld nur Leichen - und uns bleibt die Trauer.

Anmerkungen

«Noah» ist eines von zehn Events (Aufführungen, Ausstellungen, Führungen und einer Edition), die das Bündnerland in diesem Sommer kulturell bewegen. Eine gehaltvolle, schöne Broschüre, die abgegeben wird, informiert umfassend darüber.

Fotos: Origen Festival, Benjamin Hofer

Die letzten Aufführungen finden am 30. und 31. Juli und am 2., 3., 7., 9. und 10. August statt. Schnell anmelden, die Platzzahl ist beschränkt.

In den Eintrittspreisen ist die Fahrt von Chur (oder Zwischenstationen) bis zum Theater auf dem Damm des Stausees und retour inbegriffen. Auskünfte gibt es über www.origen.ch oder info@origen.ch, 081 637 16 81.