Fiona Tan: Bilder aus der Stille, für die Stille
Erstmals in der Schweiz zeigt das Aargauer Kunsthaus eine grosse Schau der holländischen Künstlerin Fiona Tan unter dem Titel «Rise and Fall»: Videos, Fotos und Zeichnungen, die zum Meditieren und einem neuen Sehen einladen.
Zu Recht gilt Fiona Tan (1966 in Indonesien geboren, heute in Holland lebend) als eine der bedeutendsten Videokünstlerinnen der Welt: eine sensible und analytische Zeugin unserer Zeit. Letztes Jahr vertrat sie ihr Land an der Biennale in Venedig. – Und um es gleich vorweg zu nehmen: Ich empfehle allen, die sich gerne in Ruhe mit Bildern und mit sich selbst auseinandersetzen, einen halben Tag für ihre Ausstellung «Rise and Fall» zu reservieren (einzelne Arbeiten dauern bis zu einer Stunde).
Gleich beim Eintritt von einem Bild gefesselt
Kaum hatte ich den ersten Raum der von Direktorin Madeleine Schuppli klug kuratierten Ausstellung betreten, wurde ich gefesselt von einem etwas grösser als A4-formatigen Schwarzweiss-Foto der Serie «Provenance». Das zweite Bild der sechsteiligen Installation zeigt ein gut zwanzig jähriges Mädchen auf einem Bett sitzend, an ihren Strümpfen zupfend. (Doch das Bild bewegt sich. Es ist ein Video. Kaum zu glauben, da der Rahmen der Installation bloss vier Zentimeter dick ist und nirgends ein Projektor steht.) Schnitt. Rückenansicht des gleichen Mädchens vor dem Fenster. Schnitt. Schwenk über ein Interieur mit Blick auf einen Fluss, das Mädchen, das zum Fenster hinaus sieht, kommt ins Bild, die Kamera umkreist es, bis es zu uns blickt. Schnitt. Von aussen sieht man, wie es aus dem Haus und auf uns zu kommt, einen andern Raum betritt und vor einem Spiegel stehen bleibt. Schnitt. Es blickt in den Spiegel und dann zu uns. Schnitt. Es zeichnet vor dem Spiegel ihr Selbstbildnis. Schnitt. Das gleiche Mädchen schaukelt draussen auf einer Wippe – und alles beginnt wieder von vorne.
Bilder wie von Vermeer
«Provenance», 2008
Kaum hatte ich den ersten Raum der von Direktorin Madeleine Schuppli klug kuratierten Ausstellung betreten, wurde ich gefesselt von einem etwas grösser als A4-formatigen Schwarzweiss-Foto der Serie «Provenance». Das zweite Bild der sechsteiligen Installation zeigt ein gut zwanzig jähriges Mädchen auf einem Bett sitzend, an ihren Strümpfen zupfend. (Doch das Bild bewegt sich. Es ist ein Video. Kaum zu glauben, da der Rahmen der Installation bloss vier Zentimeter dick ist und nirgends ein Projektor steht.) Schnitt. Rückenansicht des gleichen Mädchens vor dem Fenster. Schnitt. Schwenk über ein Interieur mit Blick auf einen Fluss, das Mädchen, das zum Fenster hinaus sieht, kommt ins Bild, die Kamera umkreist es, bis es zu uns blickt. Schnitt. Von aussen sieht man, wie es aus dem Haus und auf uns zu kommt, einen andern Raum betritt und vor einem Spiegel stehen bleibt. Schnitt. Es blickt in den Spiegel und dann zu uns. Schnitt. Es zeichnet vor dem Spiegel ihr Selbstbildnis. Schnitt. Das gleiche Mädchen schaukelt draussen auf einer Wippe – und alles beginnt wieder von vorne.
Die Videobilder sind von ausgesuchter Reinheit, Eleganz und Ruhe wie Gemälde Jan Vermeers van Delft, die Bewegungen von behutsam beobachteten, in Ruhe ablaufenden Ritualen. «Cinema geht oft so schnell – man kommt nicht nach mit Denken», meint die Künstlerin. Formal inspiriert sind die sechs filmischen Porträts mit mehrminütigen Sequenzen von der berühmten Sammlung altniederländischer Porträtmalerei des Rijksmuseum Amsterdam. Mit Personen, zu denen sie private Beziehungen hat, Familienmitglieder, Freunde, Bekannte. Deren kleine, alltägliche Handlungen auf die Sujets der klassischen Genremalerei verweisen, wo Essen, Lesen oder Schlafen zu den gängigen Motiven gehören. In diesen intimen Bildern verweben sich Vergangenheit und Gegenwart, Kunst und Biografie, Amsterdam und der Rest der Welt. Doch all dies ereignet sich erst, wenn wir den Videos Zeit lassen, sich in uns zu entfalten.
Bereits nach diesem ersten Saal erging es mir – wie höchst wahrscheinlich auch vielen andern: Ich wurde immer ruhiger, Herzschlag und Atem verlangsamten sich, mein Blick und mein Sinnen richteten sich nach innen.
Bewusstseinsfetzen eines Alzheimerkranken
«A Lapse of Memory», 2007
In der grossflächigen Installation «A Lapse of Memory» versucht sich ein alter, unter Demenz leidender Mann zu erinnern. Er bewohnt einen mit Fresken und Tapeten ausgeschmückten und mit wertvollen Teppichen ausgelegten Prunkbau. Sein langsamer psychischer Zerfall ist in allen Räumen zu spüren, wie auch das Mobiliar grösstenteils fehlt. Die Texte zu ihren Videoprojektionen verfasst und spricht Fiona Tann selbst. In einer schlichten, poetischen Sprache erzählt sie die Geschichte von Henry. Oder heisst er Eng Lie? Die Erzählung lässt auch Zweifel aufkommen, ob der hagere Protagonist mit silberfarbenem Haar eigentlich ein Asiat oder Europäer ist, für den sie auch gleich mehrere mögliche Biografien entwirft. Physisch lebt er zwar in einem weiten, offenen Räumen, metaphorisch jedoch ist er gefangen im Käfig seines schwindenden Gedächtnisses. Ein Mensch, der trotz aller Versuche, an rituellen Gewohnheiten festzuhalten, in den Spiegelungen der Erinnerung verloren geht. Ein berührendes Porträt, nicht nur der Alzheimerkrankheit mit ihren «Erinnerungslücken» wegen, sondern auch weil das Leben von uns allen ein «Leben zum Tode» (Kierkegaard) ist und bleibt.
Werden und Vergehen im Leben einer Frau
«Rise and Fall», 2009
Der Blick in die Vergangenheit und die Beziehung zum Bild stellen zwei Pole des Oeuvres von Fiona Tan dar: der eine den Inhalt, der andere die Form betreffend, beide ihre und unsere Biografie aufnehmend, was betroffen macht. Meisterhaft in der bereits in Venedig gezeigten grossflächigen Doppelprojektion «Rise and Fall» zum Ausdruck gebracht, in welcher eine ältere Frau sich an ihr Leben als junge Frau erinnert. Erinnerungen ans alltägliche Erleben mit Baden, Spazieren, Ankleiden. Die Bilder pendeln von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück. Zwischen die Impressionen der alten und der jungen Frau sind Sequenzen mit fliessendem, schäumendem, wirbelndem, tosendem Wasser montiert, wohl als Metapher für den Fluss der Zeit und des Erinnerns, für das Werden und Vergehen, für das grosse Panta Rhei (πάντα ῥεῖ). Wenn die Künstlerin sagt, sie interessiere, «was Vergangenheit, Zeit, Identität ist», so macht sie klar, dass auch dieser Umgang mit der Vergangenheit, diese Zeitsprünge letztlich auf die Suche nach der Identität zielen. Identität, die mich als Individuum von den andern unterscheidet, die mich zu ich und dich zu du macht.
Zum Abschied: Offen für das (verlorenen) Ich
Wer diese ästhetischen Wahrnehmungen – «Aísthesis» heisst nichts anderes als «Wahrnehmung» – und diese menschlichen, persönlichen Exerzitien gemacht hat, dann das Kunsthaus verlässt, den Platz davor, eine Strasse daneben betritt, ein Geschäft oder Restaurant besucht, einen Bus oder eine Bahn besteigt, fühlt sich andern: Etwas ist neu, kathartisch gereinigt vom Staub der Aussenwelt- und der Innenweltverschmutzung durch Technik und Mobilität respektive durch Medien. Den gleichen Medien, die Fiona Tan braucht, um unsere Wahrnehmung fürs Wesentliche zu öffnen. Jetzt sind die Poren unserer Wahrnehmung weit offen für die Abbilder und Sinnbilder des grossartigen, schaurigen und geheimnisvollen Lebens – auf der Suche nach dem (verlorenen) Ich.