FOTO SZENE GR - Albert Steiners Erben
Immer wieder zeigt sich in der Kulturszene, dass Innovationen nicht nur in den Zentren, sondern auch an der Peripherie gedeihen. Dass in der Schweiz also nicht nur in Zürich, sondern beispielsweise auch in Graubünden Neues entsteht. Seien es originelle Theaterproduktionen, unkonventionelle Filme, einmalige Fernsehangebote, stilbildende Architektur oder neue Formen in der bildenden Kunst. Ein solches Ereignis im Bereich der Fotografie findet gegenwärtig und noch bis 12. September im Kunstmuseum Chur statt.
Eine Schau des Fotografen Albert Steiner (1877 – 1968), der wie kein anderer die Fotografie dieses Bergkantons geprägt hat, bildet den Auftakt zum Grossprojekt FOTO SZENE GR, einer längerfristigen Recherche des Museums unter Leitung von Katharina Ammann.
Albert Steiner, Stille am Silsersee, Oberengadin, 1918-1945
Ziele des Bündner Unternehmens sind, Fotografinnen und Fotografen untereinander und mit dem Museum enger zu vernetzen, einen Diskurs über die Eigenheiten von Fotografie und Kunst, über Bild und Abbild und die Gegenüberstellung von künstlerischem und kommerziellem Schaffen zu führen. Ein mutiger Versuch mit offenem Ausgang!
Albert Steiner war Vorbild…
Die Ausstellung blendet als Auftakt in die Vergangenheit zurück, um Traditionslinien, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Fotografenpersönlichkeiten zu erspüren. Steiners Landschaftsaufnahmen haben sich bereits lange Zeit bevor er für die Kunst entdeckt wurde, in den Köpfen einer breiten Bevölkerung festgesetzt, da sie nicht nur auf zahllosen Postkarten und andern Publikationen zirkulierten, sondern auch viele Nachahmer fanden, die ähnlich arbeiteten. «Die sakrale Überhöhung des lichtdurchfluteten imposanten Tals des Oberengadins oder die makellose Unberührtheit einer frisch verschneiten Tanne stehen im kollektiven Gedächtnis nicht nur für die unverwechselbare Schönheit des Engadins, sondern für unsere nationale Identität», schreibt Katharina Ammann im «Editorial».
Florio Puenter, Lej da Segl, 2009
… doch kein Übervater
Es erstaunt deshalb nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen sich mit ihm auseinandersetzen und sich von ihm als vermeintlichem Übervater emanzipieren mussten, indem sie sich von ihm entfernten, eigene Wege suchten und fanden. So Florian Puetner (1964), der sich vor allem mit früheren Bündner Fotografen wie Romedo Guler (1836 – 1909) oder Elizabeth Main (1861 – 1934) auseinandersetzte, um sich dann in seinem Spätwerk dennoch wieder Steiners Ästhetik annäherte.
Gaudenz Signorell, Freude am Unsinn, 2008/2009
Auch Gaudenz Signorell (1950) sieht Steiner nicht als isoliertes Phänomen, sondern als Teil einer fotografischen Tradition, die ihre Wurzeln in der touristischen Erschliessung der Alpen im 19. Jahrhundert hatte.
Romedo Guler, Gletschersturz am Morteratsch, um 1890
Steiners ausgeprägter Wille zur Kunst wird festgestellt, welche korrespondiert mit der Faszination für fotografische Techniken, die bei der neuen Generation verbreitet anzutreffen ist. Etwa in den scharfen analogen Schwarz-Weiss-Aufnahmen von Stephan Schenks (1962) Waldpanoramen, den gleichmässig ausgeleuchteten Farbfotografien von Thomas Popp (1966) oder den ausdifferenzierten Grauabstufungen in Hans Danusers (1953) Erosionsbildern.
Gaudenz Metzger, Schabernack, 2010
Ein Nachwirken von Albert Steiners Oeuvre ist selbst noch bei der jüngsten Generation festzustellen. Bei Gaudenz Metzger (1980) und Esther Vonplon (1980), die beide nicht digital fotografieren, sondern klassisch und ihre Abzüge möglichst von Hand anfertigen. Die Vertiefung in die Landschaft und die Auseinandersetzung mit ihr bleibt auch hier zentral.
Fotografie von der Peripherie…
Dieser augenfällige kulturelle Schwerpunkt verbindet die Bündner Fotografinnen und Fotografen selbst dann, wenn sie in fremden Ländern arbeiten. «Dieser Kulturraum mit seinen grandiosen Gipfeln, seinen hinausweisenden Passübergängen, seinen hundertfünfzig über eigene Idiome und Identitäten verfügenden Landschaften, ist unverwechselbar» (KA). Die Haltung, welche in diesem Raum gedeiht, wirkt weiter in andere Länder und andere Zeiten.
Diese fotografierten Landschaften bilden auch für die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung einen faszinierenden Zugang zum Betrachten der Berge, Täler, Landschaften und Wolkengebilde im «Kanton der hundert Täler». Die Ausstellung kann uns Laien helfen beim eigenen Betrachten, beim Wahrnehmen alles Sichtbaren, bei der Transformation des äusserlich Gesehenen zum innerlich Geschauten.
Corinne L. Rusch, lost in patterns 1, 2007
Eine andere Weiterentwicklung stellen Corinne L. Ruschs (1973) inszenierte Fotografien in historischen Hotelinterieurs dar, auch diese eine Auseinandersetzung mit dem alpinen Raum. Ebenso wie Guido Baselias (1953) Innenansichten der Gletscher. Diese aktuellen Fotografien erschöpfen sich längst nicht mehr in der Suggestion idealer Landschaften, sondern sind Antworten auf immer neue Fragen an die Natur.
Jules Spinatsch, Temporary Discomfort, Chapter IV, 2003
… hin zu neuen Zentren der Welt
Bei Jules Spinatschs (1964) Davoser Panorama, in dem die globale Wirtschaft auf eine ebenso konstruierte Pulverschneeidylle prallt, versteht sich als Weiterentwicklung. Ebenso die Video-Interviews mit Kriegsberichterstattern von Goran Galić (1977) und Gian-Reto Gredig (1976), die sich mit dem Wirklichkeitsbezug und der Wirklichkeitsgenerierung des fotografischen Mediums auseinandersetzen. Damit öffnet sich der Horizont der engen Bündner Täler definitiv zur grossen, weiten Welt.
Dieses Hin und Her, Weg in die Ferne und Zurück nach Hause erinnert an einen andern grossen Bündner Künstler, den Filmemachers Daniel Schmid. Er musste immer wieder in seine Heimat Flims zurückkehren und sie immer wieder verlassen und nach Deutschland, Frankreich, Italien und China fliehen. Vielleicht sind die psychischen Landschaften dieser Bildgestalter zutiefst ein künstlerischer Ausdruck der natürlichen Bündner Landschaften.