Fotografiere, um zu verändern

Das Fotomuseum Winterthur zeigt eine Retrospektive des Amerikaners Lewis Hine, welche um die Frage der Verantwortung des Fotografen den abgebildeten Menschen und Zuständen gegenüber kreist.

Wie weit können Bilder gegen Ungerechtigkeiten und soziale Missstände wirksam werden? Sind Fotografen den abgebildeten Menschen gegenüber verantwortlich? Solche und ähnliche Fragen stellen sich Dokumentaristen der Fotografie und des Films – und wir als Betrachter ihrer Bilder. Eine Antwort gibt der us-amerikanische Fotograf Lewis Hine (1874 – 1940) in der von Alison Nordström kuratierten, 170 Werke umfassenden Retrospektive bis Ende August im Fotomuseum Winterthur.

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Mann auf Stahlträgern des Empire State Building, ca. 1931

Der Fotograf, Lehrer und Soziologe Lewis Hine wünschte leidenschaftlich, dass man sich der im amerikanischen Recht legitimierten und im Alltag gelebten Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten bewusst wird. Und er stand enthusiastisch für die Überzeugung ein, dass jeder Mensch den Respekt der anderen verdient und dass die Fotografie ein brauchbares Werkzeug ist, dies in der Öffentlichkeit sicht- und erkennbar zu machen.

Lewis Wickes Hine wuchs in einem einfachen Restaurantbetrieb einer Kleinstadt in Wisconsin auf. 1890, als er die High-School abgeschlossen hatte, starb sein Vater bei einem Unfall. Dann arbeitete er in verschiedenen Jobs, war zeitweise auch arbeitslos. In dieser Lebensphase sensibilisierte er sich für soziale Themen. Von 1900 bis 1907 studierte er Soziologie in Chicago und New York, bevor er eine Stelle als Lehrer an der Ethical Culture Fieldston School annahm. Er hatte das Glück, Menschen gefunden zu haben, die ihn förderten, so der Pädagoge Fanny Frank, der ihm das Lehrerstudium empfahl und später zu einer Anstellung verhalf. 1930 erhielt Hine den Auftrag, den aufwendigen Bau des Empire State Building in New York fotografisch zu begleiten. Zusammen mit seinem Sohn Croydon machte er über 1000 Aufnahmen von den schwindelerregenden Arbeiten, bei welchen insgesamt 14 Menschen ums Leben kamen. Seine Fotos stehen für den menschlichen Einsatz und die schmerzlichen Opfer hinter dem damals höchsten, allseits bejubelten Wolkenkratzer.

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Jüdin auf Ellis Island, 1905

Fototechnisch war Hine ein Autdidakt. Mit 29 Jahren brachte er sich das Fotografieren selber bei. Doch er verstand die Kamera stets als Waffe, um Missstände aufzudecken und öffentlich zu machen und wurde so ein früher Vertreter des Genres sozialdokumentarische Fotografie. Einige seiner Fotos sind mitverantwortlich für ein neues Bewusstsein und erste Reformen gegen die Kinderarbeit. Doch auch hundert Jahre später sind die gleichen Themen noch aktuell. So haben wir heute in Europa eine intensive Immigrationsbewegung, für die politisch und humanitär Lösungen fehlen. Die Kinderarbeit kennen wir hierzulande zwar nicht mehr, doch nur, weil wir die industriellen Produktionszweige, die Kinderarbeit nutzen, in ferne Länder auslagern.

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Mechaniker an einer Dampfpumpe in einem Elektrokraftwerk, 1920

Fotograf, Sozialarbeiter, Lehrer, Missionar

Der Fotoband «Men At Work. Photographic Studies Of Modern Men And Machines», 1932 erschienen, ist den Arbeitern als den Helden im Maschinenzeitalter gewidmet. Er enthält heroische Porträts zerbrechlicher Menschen vor gigantischen Stahlwalzen, oder auf Stahlträgern hoch über den Strassen Manhattans balancierende kleine Menschlein, und stellt den arbeitenden Handwerker symbolisch als die Ikone eines neuen, kalten, unmenschlichen Zeitalters dar. Sein soziales Engagement erfüllte ihn total, wurde ihm zur Obsession. Er beteiligte sich an der «Pittsburgh Survey of 1907 – 1910», der ersten grossen Studie zum städtischen Leben in den USA. Dieser steuerte er Porträtfotos von Arbeitern und ihren Familien aus der Industrielandschaft der Stadt bei. Diese fanden grosse Verbreitung, zuerst in populären und reformistischen Zeitschriften, später in Büchern. Weiter war er der offizielle Fotograf der ersten amerikanischen Lobbyorganisation gegen Kinderarbeit, des «National Child Labor Committee». Für diese war er von 1908 bis 1918 rastlos unterwegs. 80‘000 Kilometer reiste er jährlich durch das Land, 5‘000 Porträts entstanden, deren Wirkung, wenn auch erst Jahre später, in Gesetzesreformen mündeten. Der Aktivist sammelte nicht nur fotografische Zeugnisse, sondern beschrieb die Porträtierten auch ausführlich: ihr Alter, ihre Körpergrösse, ihre Herkunft. Auch dank Hine schuf die «Fair Labor Standards Act» von 1938 ein Arbeitsverbot für unter Sechzehnjährige.

Trotz Entbehrungen und Leid strahlen die Kinder auf Hines Fotos. Die Liebe, die er für sie empfand, schenkten sie ihm in ihren Blicken zurück. Für seinen Kampf gegen die Ungerechtigkeit begriff er die Fotografie als Medium der sozialen Arbeit, sich selbst verstand er als deren Missionar. Das Thema der Armut besetzte ihn zeitlebens. Doch finanzielle Engpässe bedrückten ihn, und berufliche Tiefschläge verfolgten ihn. Als er am 4. November 1940 im Alter von 66 Jahren in New York verarmt und einsam starb, war sein Name nur mehr eine Randnotiz wert. Ein Mann, der für viele vieles erreicht hatte, war und hatte am Ende selbst verloren.

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Mitternacht auf der Brooklyn Bridge, 1906

Titelbild: Mann auf Stahlträgern des Empire State Building, ca. 1931

www.fotomuseum.ch