Fotos aus menschlichen Grenzbereichen
Ein Muss: 200 Werke der grossen amerikanische Fotografin Diane Arbus (1923 – 1971) sind im Fotomuseum Winterthur zu sehen.
Die Retrospektive mit den bekannten, aber auch noch nie gezeigten Aufnahmen erlaubt es, die Ursprünge, den Umfang und die Intention einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der Weltfotografie des zwanzigsten Jahrhunderts kennenzulernen. Die Arbeiten zeigen eindrücklich die Sensibilität ihres Gestaltens: beim Gesichtsausdruck, der Körperhaltung, dem Licht und der Raumkomposition. Doch gerade bei dieser Künstlerin von noch grösserer Wichtigkeit sind: ihr Engagement für die Gestrandeten, Randständigen, die körperlich, seelisch oder geistig Behinderten, Menschen, die an den Rand gespült, von Glück und Erfolg verlassen sind – und ihr sympathischer, liebender Blick auf sie.
Wie einem die erste Liebe lebenslang in Erinnerung bleibt, so auch die erste Begegnung mit einem künstlerischen Oeuvre. Für mich war es die Retrospektive Diana Arbus im Museum of Modern Art in New York im Jahre 1972, die ich nicht mehr vergesse und deren Ersteindruck in der aktuellen Ausstellung immer wieder auflebt.
Child with a toy hand grenade in Central Park, N.Y.C. 1962, © The Estate of Diane Arbus
Wohl überlegt wurde in Winterthur auf eine chronologische, thematische oder auch wissenschaftliche Hängung verzichtet. Denn abgesehen von Jugendversuchen war Arbus immer dieselbe, das Werk immer dasselbe. Die Anordnung der in labyrinthischen Räumen gehängten Fotografien ist assoziativ, was auch beim Betrachten Assoziationen, ein persönliches Mitgestalten auslöst. Wer sich über das Erlebnis hinaus auch intellektuell mit dem Werk beschäftigen will, dem bietet im Seminarraum eine kritische Dokumentation individuelle Möglichkeiten. Wem auch der analytische Zugang nicht alle Fragen zu dieser schillernden Künstlerpersönlichkeit beantwortet, sondern immer neue stellt, gibt sie selbst die treffende Antwort: «Eine Fotografie ist wie ein Geheimnis eines Geheimnisses. Je mehr es erzählt, umso weniger erfährt man.»
«Untitled»: Bilder des Unaussprechlichen
Für Diana Arbus ist die Fotografie ein Medium, das sich mit der Wirklichkeit anlegt. Die intime und gleichwohl welthafte Anthropologie der Fotografin – mit Porträts von Paaren und Kindern, Jahrmarktartisten, Nudisten, Mittelklassefamilien, Transvestiten, Eiferern, Exzentrikern und Prominenten – stellt eine Allegorie des menschlichen Erfahrens dar. Sie erforscht mit ihrer Kamera die Beziehung zwischen Schein und Sein, Einbildung und Glauben, Theater und Realität. Arbus schaut hin und fotografiert, wo andere wegschauen. In ihrem Fotoessay «The Vertical Journey» hat sie 1960 Schönheitswettbewerbe, Bodybuilder, Debütantinnen, Obdachlose, Pfadfindertreffen, Jugendbanden, ein abbruchreifes Hotel am Broadway und seine Bewohner, einen russischen Liliputaner, der Maurice Chevalier imitiert, ein Haustierkrematorium und Mitglieder einer reisenden Dragshow fotografiert. 1968 reiste sie nach South Carolina, um einen missionierenden Landarzt und seine Patienten zu fotografieren. Im gleichen Jahr beantragte sie Genehmigungen zum Fotografieren in Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken, Altersheimen und Einrichtungen für geistig Behinderte, woraus dann ihre berühmten «Untitleds» entstanden: Fotos voller Traurigkeit und Einsamkeit, intim und laut, messerscharf und berührend, nie lieblos, stets anteilnehmend und mitleidend.
Die Menschen, die sie abbildet, sind randständig und abnormal, doch gleichzeitig integriert und normal. Stets sucht sie im Vertrauten das Fremde und im Gewöhnlichen das Besondere. Viele ihrer fotografierten Menschen sind Grenzgänger. Und wenn Grenzen über Berge führen, besteht Gefahr des Absturzes, diesseits oder jenseits. Diese Wege sind gefährlich, lebensgefährlich. Für sie persönlich endeten sie tragisch.
Identical Twins, Roselle, N.J. 1967, © The Estate of Diane Arbus
Aus ihrem Leben
Diana wurde am 14. März 1923 in New York geboren. Anfangs der 40er Jahre begann sie zu fotografieren und von 1954 bis 1957 machte sie ihre Fotografenausbildung. Als Erstes veröffentlichte der «Esquire» 1960 ihren Fotoessay «The Vertical Journey». Danach arbeitete sie meist als Freelance für «Harper’s Bazaar» oder «Show». Es folgten fünf Artikel mit Werken von ihr in der «London Sunday Times». Und für das Projekt «American Rites, Manners and Customs» erhielt sie 1963 und 1966 Guggenheimstipendien, reiste durch die Staaten und fotografierte Wettbewerbe, Festivals, öffentliche und private Zusammenkünfte, Menschen in ihren Berufskleidern, Hotellobbys, Umkleideräumen und Wohnzimmern: alles als Teil «der bedeutenden Zeremonien unserer Gegenwart». Allmählich fand sie Aufmerksamkeit, 1967 mit der Ausstellung «New Documents» im Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Auch wenn verschiedene Institutionen Werke von ihr erwarben, wurden sie zu Lebzeiten nur in zwei grossen Gruppenausstellungen gezeigt. Während den späten 60er Jahren unterrichtete sie an Hochschulen und arbeitete am Konzept für die vom MoMA für 1973 geplante Ausstellung «From the Picture Press». 1970 gab sie ein Portfolio mit zehn Bildern heraus, weitere folgten. Am 26. Juli 1971 nahm sich Diana Arbus im Alter von 48 Jahren in ihrem Apartment in New York das Leben. Das Leid, das sie ein Leben lang fotografiert hat, hat sie, so meine ich, schliesslich getötet.
Im folgenden Jahr war ihr Portfolio, als erste Arbeit eines amerikanischen Fotografen, auf der Biennale in Venedig zu sehen. Während ihrer nur knapp fünfzehn Jahre dauernden Karriere hat sie ein Oeuvre geschaffen, das mit ihrem bahnbrechenden Stil und vor allem ihrem engagierten Menschenbild einen Platz einnimmt unter den bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen den 20. Jahrhunderts. Es stimmt wohl, was sie gesagt hat und was man auf ihren Grabstein hätte schreiben könnten: «Ich glaube wirklich, es gibt Dinge, die niemand sehen würde, wenn ich sie nicht fotografiert hätte.»
Untitled (6) 1970-71, © The Estate of Diane Arbus
Auskünfte über die neu aufgelegte Biografie, das Begleitprogramm, ihren rekonstruierten Diavortrag, zweimal «Bildfokus am Mittag» sowie weiteres Wissenswertes gibt es bei
Antworten von Diana Arbus auf Anfragen für ein kurzes Statement über Fotografie
Plato
Es gibt, gab und wird immer eine unendliche Anzahl von Dingen auf der Erde geben. Alle Individuen sind verschieden, wollen unterschiedliche Dinge, wissen unterschiedliche Dinge, lieben unterschiedliche Dinge, sehen unterschiedlich aus. Alles, was auf der Erde gewesen ist, war anders als alle anderen Dinge. Das ist es, was ich liebe: die Verschiedenheit, die Einzigartigkeit aller Dinge und die Bedeutsamkeit des Lebens. Ich sehe etwas, das wie ein Wunder erscheint; ich sehe das Göttliche in den gewöhnlichen Dingen.
Amerikanische Riten, Verhaltensweisen und Gebräuche
Ich möchte die beachtlichen Zeremonien der Gegenwart fotografieren, weil wir in unserem Leben im Hier und Jetzt dazu neigen, nur das Zufällige, das Nutz- und Formlose daran wahrzunehmen. Während wir bedauern, dass die Gegenwart nicht wie die Vergangenheit ist, und verzweifelt sind, ob sie jemals die Zukunft wird, lauern ihre unzähligen und unergründlichen Gewohnheiten auf eine eigene Bedeutung.
Freaks
Freaks haben fast etwas von einer Legende. Wie eine Person in einem Märchen, die einem ein Rätsel aufgibt, das man lösen muss. Die meisten Leute haben ihr Leben lang Angst davor, dass ihnen etwas Traumatisches zustösst. Freaks sind mit ihrem Trauma auf die Welt gekommen. Die Lebensprüfung haben sie schon bestanden. Sie sind Aristokraten. Sollten Sie je mit einem zweiköpfigen Wesen gesprochen haben, dann wissen Sie, dass dieses Wesen etwas mehr weiss als Sie.
FKK-Camps
Ein bisschen wars, als würde man in eine Halluzination hineinspazieren, ohne genau zu wissen, wessen Halluzination es ist. Es ist, als hätten Adam und Eva nach dem Sündenfall Gott angefleht, ihnen zu vergeben, und er in seiner grenzenlosen Wut hätte gesagt: «Also gut, dann bleibt. Bleibt im Garten Eden. Werdet zivilisiert. Vermehrt euch. Verpfuscht es.» Und genau das haben sie getan.
Kluft zwischen Absicht und Wirkung
Wenn man jemanden auf der Strasse sieht, fällt einem doch als Erstes ins Auge, was an dieser Person nicht stimmt. Es ist erstaunlich, dass wir diese Eigenheiten mitbekommen haben. Und wir lassen es nicht bloss bei denen bewenden, die uns in die Wiege gelegt wurden, wir entwickeln noch weitere hinzu. Unsere ganze Aufmachung dient doch dem Zweck, unserer Umwelt klarzumachen, was sie von uns denken soll, aber es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was andere Leute unserer Ansicht nach von uns wissen sollen, und dem, was sie «nolens volens» von uns wissen. Das hat etwas zu tun mit dem, was ich die Kluft zwischen Absicht und Wirkung nenne. Wenn man die Realität gründlich genug betrachtet, wenn man völlig in sie eintaucht, wird sie phänomenal.
Andere Gedanken
Bei den Chinesen gibt es die Theorie, dass aus der Langeweile heraus Faszination entsteht. Ich glaube, das stimmt. Ich würde mich nie für ein Motiv entscheiden wegen dem, was es für mich bedeutet oder was ich davon halte. Man muss sich einfach für ein Motiv entscheiden, und was man dafür empfindet und was es bedeutet, stellt sich heraus, wenn man sich lang genug damit beschäftigt. (…) Es ist wichtig zu wissen, dass man nichts wissen kann. Man tastet sich immer nur voran. (…) Nichts ist so, wie es angeblich sein soll. Ich erkenne nur das wieder, was ich noch nie gesehen habe. (…) Für mich ist das Motiv eines Bildes immer wichtiger als das Bild selbst. Und komplizierter. Ich empfinde schon etwas für den Abzug, aber heilig ist er mir nicht. Er ist das, wovon er handelt, und um irgendetwas muss er sich ja drehen. Und wovon er handelt, ist immer interessanter als das, was er ist.
Fotografien
Sie sind der Beweis dafür, dass etwas existiert hat und jetzt verschwunden ist. Wie ein Fleck. Und ihre Stille ist verblüffend. Man kann sich abwenden, doch wenn man zurückkommt, werden sie immer noch da sein und einen ansehen.
15. März 1971