Franz Gertsch: Grossformatig, grossartig!

Das Kunsthaus Zürich zeigt bis 18. September unter dem Titel «Franz Gertsch. Jahreszeiten. Werke 1983 bis 2011» eine retrospektive Werkschau, mit rund 30 grossformatige Gemälden und Holzschnitten und als Höhepunkt den nun vollendeten «Vier-Jahreszeiten-Zyklus» des Schweizer Künstlers.

Der 1930 in Möringen, Kanton Bern, geborene Gertsch zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart in unserem Lande. International bekannt wurde er in den 1970er Jahren mit seiner hyperrealistischen Malerei. Arbeiten dieser Zeit erzielten heute Spitzenpreise. Ein herausragendes Renommee hat sich der Künstler auch mit seinen in Technik und Format einzigartigen Holzschnitten erworben. Er geht, abseits gängiger Moden, seit Jahrzehnten konsequent seinen eigenen Weg.

Die Eröffnung der aktuellen Ausstellung fällt zusammen mit der Vollendung des grossartigen, lang erwarteten letzten Bildes des Zyklus zu den Jahreszeiten, der als Leitfaden für die Präsentation dient, die über die jüngsten Bilder hinaus auch einen Rückblick auf sein Schaffen bis 1983 erlaubt. Die rund 30 von Kurator Tobia Bezzola gemeinsam mit dem Künstler ausgewählten Werke finden im grossen Saal des Kunsthauses ihren gebührenden Platz. Auf den Prolog im ersten Saal folgen die Säle mit «Herbst», «Winter», «Frühling» und «Sommer» in separaten, stimmungsvoll geprägten Räumen. Diesen vier Jahreszeiten-Bildern sind sämtliche seit 1980 entstandenen Gemälde sowie Holzschnitte zur Seite gestellt: Frauenporträts und Landschaftsbilder.

Der anfangs Jahr vollendete «Frühling» komplettiert den Zyklus, der mit dem 2008 fertig gestellten «Herbst» begonnen hat, auf den 2009 «Sommer» und 2009 «Winter» gefolgt sind. Am letzten Bild etwa arbeitete er beispielsweise während 16 Monaten täglich bis zu fünf Stunden, um eine Fläche von 20 x 25 cm der insgesamt 3,25 x 4,80 Meter grossen Fläche zu bemalen. Allein schon der körperliche Einsatz erheischt Respekt, abgesehen von der geistig seelischen, der künstlerischen Arbeit. Mit Hingabe erfüllt Gertsch die vor ihm ausgespannten Leinwände mit seiner Vitalität. Einen «stetigen Prozess der Beobachtung und der Verdichtung» nennt es der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann im Katalog.

Gräser.jpg/@@images/image/large

Gräser III, Mineralpigmente, 1997, in Dammarharz und Bienenwachs gebunden, auf ungrundierter Baumwolle, 290 x 290 cm, Museum Franz Gertsch, © Franz Gertsch

Versuch einer persönlichen Annäherung

Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass mir das Werk von Franz Gertsch bis heute nicht sonderlich vertraut war. Seine gigantische Arbeit, die hinter den einzelnen Werken steht, beeindruckt selbstverständlich. Doch dahinter muss ein Sinn, eine Bedeutung sein. Und diese ging mir – vielleicht auch andern – nicht auf Anhieb auf. Man spürt zwar, dass etwas Grosses vor einem hängt, doch wird einem das Warum und Wozu nicht automatisch klar. Die Zürcher Ausstellung hat mir, so meine ich, die Augen für das Oeuvre von Franz Gertsch geöffnet. Was bei mir dabei abgelaufen ist, was mich berührt, betroffen, provoziert hat, dem gehe ich hier nochmals nach.

… an die Porträts

Als Erstes überrascht, ja überwältigt einen die Grösse der Werke. Doch Bilder von drei und vier Meters gibt es unzählige. Die Grösse dieser Werke hat jedoch etwas Eigenes: Die Frauenporträts etwa füllen die Saalwände in ihrer Vergrösserung, die in keinem Verhältnis zur Grösse der Besucher stehen. Ein Gesicht, das zwanzig Mal grösser ist als die realen Gesichter um mich herum, ist ungewohnt und ausserordentlich, d.h. gehört in eine andere Ordnung, ist herausgehoben auch dem Alltag. Seine Johanna und seine Silvia sind zudem hyperrealistisch auf die Leinwand gebannt. Durch ihre Grösse und ihre fotografische Exaktheit bilden sie nicht irgendeine Johanna oder Silvia ab, sondern sind die Silvia oder die Johanna. Sie werden irgendwie zu Ikonen. Vor uns hängen keine Bilder, sondern riesige Menschen. «Mich interessiert nicht die Kunst, sondern das Leben», meint der Maler. Vielleicht hat Gertsch in diesen Gesichtern, die gleichzeitig Gesichtslandschaften darstellen, als «Animus» die «Anima» gefunden.

Johanna.jpg/@@images/image/large

Johanna I, 1984, Acryl auf ungrundierter Baumwolle, 330 x 340 cm, Privatsammlung, © 2011 Franz Gertsch

… an das Wasser

Der Künstler interessiert sich in seinem Werk nicht nur für den Menschen und sein Gesicht, sondern auch die Natur, die Landschaft, die ihn in seinem Haus in Rüschegg umgibt. Dort begegnet er einem Urelement, dem Wasser immer wieder in seinem visuellen Reichtum, seiner Farbigkeit, selbst in den fast monochromen Bildern. Es dünkt mich, er hätte all die hoch komplexen Naturgesetze, der Wellenlehre beispielsweise, in seine Arbeit mit dem Holz und am Papier «einprogrammiert». Als ob er mit dem Hervorbringen des Wassers auf der Japanpapier eine Welt neu erschaffen möchte. Das tut er auch, denn die Bilder sind der Natur nicht ähnlich, sie werden als visuelle Komposition Neuschöpfungen. Jeder Quadrant ist ein Teil seines grossen Bildes der Natur.

… an die Landschafts-Holzschnitte

Schwarzwasser.jpg/@@images/image/large

Triptychon Schwarzwasser, 1991/92, Holzschnitt (3 Platten), je 237 x 185 cm, Handabzug Nr. 6 auf Japanpapier, je 276 x 217 cm, zusammengesetzt 276 x 597 cm, Nachtblau, Museum Franz Gertsch, © 2011 Franz Gertsch

Es ist fast nicht zu glauben, das «Schwarzwasser» etwa mit all seinen Reflexen, Bewegungen und Strukturen ist keine Fotografie, kein Acrylbild, sondern ein Holzschnitt! Von seinen übergrossformatigen, mit ein bis drei Platten erstellten Holzschnitten gibt es nur Unikate. Mit dieser Technik, so scheint mir, zwing sich der Maler zu permanenten Entscheiden über Hell oder Dunkel, Ja oder Nein und, wie er selber meint, dem Hin und Her zwischen Yin und Yang. Was sich am Schluss als realistisches oder gar hyperrealistisches Wasserbild präsentiert, entstand aus tausenden von kleinen Punkten, die in ihrem Zusammenspiel, der Platzierung und den Abständen, nicht irgendein Wasser darstellt, sondern das Wasser an sich, neu erschafft aus der Hand des Künstlers.

… an die Porträt-Holzschnitte

In der gleichen Technik hat Gertsch eine Reihe von Frauenporträts geschaffen: von Natasche und Dominique. Bildnisse, die zu verschwinden oder aus dem Verschwinden aufzutauchen scheinen, Bildnisse, die sich ins Ätherische aufzulösen oder aus dem Ätherischen heraus zu konkretisieren scheinen. Auch hier entstand alles aus kleinen pointilistischen Punkten anfänglich auf dem Holz und später auf dem Papier. Vollendet im Aktbild seiner Frau Maria in der freien Natur. Die Holzschnitte entstanden aus Punkten, die Hell, und aus Punkte, die Dunkel der gewählten Farbe erzeugen. Und aus diesen, wie Atomkerne sich bündelnden hellen oder dunklen Punkten werden grossartige Bilder.

Maria.jpg/@@images/image/large

Maria, 2001, Holzschnitt (3 Platten), je 305 x 152 cm, Handabzug Nr. 2 auf Japanpapier, 380 x 276 cm, zusammengesetzt 380 x 566 cm, Blau (leicht vergraut), Besitz von Franz Gertsch & Maria Gertsch-Meer, © 2011 Franz Gertsch

… an die vier Jahreszeiten

Eine erste selbstverständliche Annäherung an die «Jahreszeiten» geschieht wohl, wenn man die vier riesigen Bilder beschreibt, wenn man Farben und Formen in Worte zu übersetzen versucht. Der unendliche Reichtum an Farben, Formen, Linien, Punkten, in einem je verschiedenen Grundton geht einem dabei auf. (Die Text des Kataloges und des Audioguide leisten dies vorzüglich.) Eigene Worte dafür finden, ermöglicht uns jedoch zusätzlich eine Art Aneignung der Bilder.

Etwas Besonderes dieser Bilder ist, dass sie, aus der Ferne gesehen, natürlich scharf erscheinen, aus der Nähe jedoch verschwommen. (Der acht-minutige Film von Maria Gertsch über die Malweise ihres Mannes, der im Untergeschoss des Kunsthauses gezeigt wird, erklärt dies.) Denn der Künstler malt mit seinen Pinseln nicht wie gewöhnlich auf der Leinwand, er reibt seine Farben in die Leinwand hinein, durchtränkt die Unterlage sozusagen. Dennoch meine ich, ist das Phänomen der Unschärfe nicht bloss ein technisches, sondern ein künstlerisches. «Künstler suchen Lösungen», sagte Gertsch einmal, und zwar von existentiellen Fragen, meine ich. Mir macht er hier offenbar, dass man die Wirklichkeit nie ergreifen, begreifen kann. Geht man auf Distanz, so werden die Bilder, wie die Wirklichkeit im Alltag, immer unfassbarer. Kommt man in die Nähe, so wird die Wirklichkeit zwar schärfer und exakter, doch gleichwohl nie objektiv.

Herbst.jpg/@@images/image/large

Herbst, 2008, Acryl auf ungrundierter Baumwolle, 325 x 490 cm, Besitz von Franz Gertsch & Maria Gertsch-Meer, © 2011 Franz Gertsch

Sommer.jpg/@@images/image/large

Sommer, 2009, Acryl auf ungrundierter Baumwolle, 325 x 480 cm, Besitz von Franz Gertsch & Maria Gertsch-Meer, © 2011 Franz Gertsch

Winter.jpg/@@images/image/large

Winter, 2009, Acryl auf ungrundierter Leinwand, 325 x 480 cm, Besitz von Franz Gertsch & Maria Gertsch-Meer, © 2011 Franz Gertsch

Fruehling.jpg/@@images/image/large

Frühling, 2011, Eitempera auf ungrundierter Baumwolle, 325 x 480 cm, Besitz von Franz Gertsch & Maria Gertsch-Meer, © 2011 Franz Gertsch

Franz Gertsch im erklärenden Originalton

Die Milchstrasse ist

ein Ausschnitt

des Kosmos

Das Sonnensystem ist

ein Ausschnitt

der Milchstrasse

Die Erde ist

ein Ausschnitt

des Sonnensystems

Unser Blickfeld ist

ein Ausschnitt

der Erde

Unser Waldweg ist

ein Ausschnitt

unseres Blickfeldes

und des Kosmos

Der Herbst ist der Herbst des Jahres 1994.

Der Sommer ist der Sommer des Jahres 2007.

Der Winter ist der Winter des Jahres 2008.

Der Frühling ist der Frühling des Jahres 2009.

Gedankensplitter zum Weiterdenken

Zum Schluss paar Deutungsversuche: Nicht um Handlung und Tun, sondern um Dauer und Sein, scheint es Franz Gertsch in seinem Werk zu gehen. – Der Schein der Kunst wird zum Sein des Lebens. – Die Teile, die er schafft, sind immer Teile eines Ganzen, das ihn interessiert. Darum ist seine Malerei welthaft, welthaltig. – Natur wird bei ihm Kunst. Und gleichwohl ist es nicht der Künstler mit seiner persönlichen Handschrift, der eigentlich malt, sondern die Natur selbst, ob Landschaft oder Mensch, mit denen er in einem intensiven Prozess der Empathie steht. – Und den Prozess dieser Umwandlung vollbringt Franz Gertsch in einer beeindruckenden Konsequenz, in einer Radikalität und Frömmigkeit wie ein Mönch. Er schafft, so möchte ich sagen, am Altar der Natur seine Kunst. – Seine grossflächigen Bilder von Gräsern, die die Ausstellung eröffnen, sind für mich so gross wie die Pietà Rondanini von Michelangelo oder die Nike von Samothrake.

www.kunsthaus.ch