Fünf Fotoausstellungen in Winterthur

Gegenwärtig zeigt das Fotomuseum drei und die Fotostiftung zwei Ausstellung, die zu empfehlen sind. Mit ihnen kann in meinen Augen ein dreifaches Ziel erreicht werden: Sie eignet sich als gute Hinführung zur aktuellen Fotografie; sie dient in diesem Sinn als eine Art «Schule des Sehens»; auf persönlicher Ebene können die Besucher ihrer Seh- und Denkklischees durch neue Erfahrung korrigieren. Wenn ältere Menschen motiviert werden, ihre körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten zu trainieren, so kann eine solche Ausstellung zusätzlich ihr Bewusstsein erweitern. Denn es gilt nicht nur das bekannte Paradigma, «Wissenschaft schafft Wissen», sondern auch das andere, kaum bekannt, «Kunst schafft Können».

«Arbeit / Labour» im Fotomuseum – alte und neue Sichten auf die Arbeit

Die Ausstellung Thema «Arbeit/Labor» bieten sich an, ein allseits bekanntes Thema von verschiedenen Fotografen aus neuen Perspektiven zu betrachten. Ein jeder von uns hat seinen persönlichen Bezug zur Arbeit. Sei es, dass er oder sie angestellt oder freiberuflich tätig ist, als Einsteiger mit konkreten Wünschen in das Arbeitsleben startet oder als Rentner den wohlverdienten Ruhestand geniesst. Erwerbsarbeit spielt eine tragende Rolle in unserer bürgerlichen Gesellschaft. Sie definiert sozialen Status und Zugehörigkeit, während bei Arbeitslosigkeit und Nichtarbeit Ausgrenzung droht. Die Fotografie hat schon früh Zeugnisse gebracht, wie, wo und unter welchen Bedingungen Menschen gearbeitet haben.

Die von Thomas Seelig kuratierte Ausstellung schlägt inhaltliche und motivische Brücken vom fortschreitenden Wandel der physischen Arbeit in den Fotografien von Jakob Tuggener und Sebastião Salgado, hin zur automatisierten und computerunterstützten Tätigkeit in den Werken von Henrik Spohler. Sie folgt über Kontinente und Jahrzehnte hinweg kaum sichtbaren Bewegungen in der Migration, festgehalten in den Werken von Richard Avedon, Volker Heinze, Ad van Denderen und Beat Streuli.

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Jakob Tuggener, Arme der Arbeit, 1947, © Jakob Tuggener Stiftung

Frei von äusseren Vorgaben und in individueller Form haben Fotografen und Künstler jeweils in ihrer Zeit ein Abbild der Arbeit, des Besitzes und des Wohlstands gezeigt. Zeitgenössische Fotografien und Videoarbeiten von Lewis Baltz, Joachim Brohm, David Goldblatt wirken hier als dokumentarische Mittel und reichen weit über die sachliche Aufzeichnung hinaus. Ihre Werke kommentieren, gewichten, interpretieren und stellen differenzierte Lebens- und Arbeitsumstände vor. Angewandte Dokumentationsmaterialien und künstlerische Fotografien spüren auf, dass sich die zur Unsichtbarkeit neigende Arbeit die gesellschaftlichen Zustände abbildet. Wie weit das Thema in den arbeitsfernen Alltag hineinreicht, bezeugen Aufnahmen von Mustersiedlungen und Arbeiterhäusern aus dem Von Roll Fotoarchiv. Die Luftaufnahme der reissbrettartig geplanten Altersresidenz «Sun City» in Arizona von Peter Granser oder Joakim Eskildsens einfühlsame Bildserie der Roma in Griechenland, bezeugen dagegen unterschiedliche Vorstellungen von innerer Sicherheit und äusserer Ordnung.

Bis 8. 5. 2011

«Unter den Umständen» von Stefan Burger im Fotomuseum – Das Spiel mit versteckten Wirklichkeiten

Wir verschalen, verkleiden, drapieren, lackieren und decken ab und zu die schiefe Wand, das alternde Gesicht, die ausbrechende Bohrstelle, die verbeulte Karosserie. Wir arrangieren unsere Welt gerne so, dass ihre Entstehung und Operieren nicht mehr sichtbar sind, sondern wie eine perfekte glänzende Box vor uns hingestellt und betrachtet werden kann. Handlungen verschwinden im Resultat, Fehlhandlungen werden kaschiert, Leerstellen wegeditiert. Wir mögen das Resultat, den Auftritt, die Aktion, das Event, den Glanz und retuschieren das Dazwischen, wischen das Unerwünschte in den realen oder virtuellen Papierkorb. Heinrich Böll hat Ähnliches zu seiner Zeit über eine verwandte Produktionsgewohnheit beim Radio in seiner Erzählung «Dr. Murkes gesammeltes Schweigen» beschrieben und damit kritisiert.

Stefan Burger deckt Weglassungen und Verschwinden auf und motiviert uns, den eigenen Sehr- und Denkgewohnheiten gegenüber kritisch zu werden. Er lässt uns dahinter blicken: Hier stiess die Wand doch real in den Raum hinaus oder wie im untenstehenden Bild hing der Vorhang doch in den Raum hinein, und doch war alles nur eine Illusion. Burger desillusioniert uns, zerstört Illusionen. Er enttäuscht uns, er befreit von Täuschungen. Vor vielen Werken (ob als Installation oder Fotografie genommen) schütteln wir den Kopf und erleben überraschende Aha-Erlebnisse. Eben glaubte ich, es sei so, und jetzt weiss ich, es ist anders.

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Stefan Burger, ohne Titel, 2010, Lack, Kupferblech und Holz, © Stefan Burger

Bis 14. 11. 2010

«Evidence» von Larry Sultan und Mike Mandel im Fotomuseum – Die Objektivität hinterfragt

Von 1975 bis 77 durchforsteten Larry Sultan und Mike Mandel Hunderttausende von Fotografien in den Archiven der Bechtel Corporation, des Beverly Hills Police Department, der Jet Propulsion Laboratories, des U.S. Departments of the Interior, des Stanford Research Institute und ein paar Dutzend anderer Firmen, Verwaltungen und Bildungsinstitutionen. Sie waren auf der Suche nach Fotografien, die als sogenannt «objektive Dokumente» fotografiert und eingesetzt worden waren. Schliesslich wählten sie eine Reihe davon aus und druckten sie mit grosser Sorgfalt, wie sie damals nur bei Kunstdrucken üblich war, in limitierter Auflage und mit dem einfachen Titel «Evidence» (Beweis) auf dem Umschlag.

Die beiden Künstler stellen sich, an unserer Stelle, der stets notwendige, also Not wendenden Frage respektive Forderung nach der Objektivität in den Medien. Dass es diese nicht gibt, erfahren Professionelle und Laien im Photoshop-Zeitalter täglich. «Nichts ist so subjektiv wie das Objektiv einer Kamera», meinte schon vor fünfzig Jahren der Medienpädagoge Franz Zöchbauer, einer der Pioniere der Medienerziehung im deutschsprachigen Raum. Die beiden Künstler-Experimentatoren führen uns mit den ausgewählten Fotografien an die Grenzen der Objektivität und lassen uns ihnen entlang spazieren. Dies macht Sinn.

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Mike Mandel / Larry Sultan, Aus «Evidence», © Sultan/Mandel

Bis 14. 11. 2010

«Die Lügner» von Ruth Erdt in der Fotostiftung – Der Traum von der Selbstinszenierung

Seit 25 Jahren arbeitet die heute 45-jährige Ruth Erdt an einem grossen, persönlichen fotografischen Projekt, das mit ihrer Biografie und den Menschen ihrer nächsten Umgebung eng verknüpft ist. Dabei geht es ihr nicht um ein realistisches Abbild ihrer eigenen Welt. Vielmehr findet sie im Privaten und Vertrauten den Stoff für fiktive Erzählungen um Personen, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind, Figuren, die sich immer wieder neu erfinden und inszenieren, um sich so von den Fesseln der Wirklichkeit zu befreien: «Ich mag Lügner, Leute, die mit kleinen Notlügen ihren Alltag manipulieren und einen anderen Sachverhalt vergaukeln. Ich meine damit nicht Manipulationen, mit denen man Menschen einen Schaden zufügt. Sondern die kleinen Verschiebungen der Realität, die schnellen Geschichten und Erfindungen, damit man den Anforderungen von aussen gewachsen ist.» Ruth Erdts Fotografien zeigen zärtliche und schmerzliche Begegnungen, stille und heftige Momente, Glück und Melancholie, eine intensive Chronik der Gefühle zwischen Verletzlichkeit und Wut. Am eindrücklichsten in der irritierenden Doppelprojektion, welche das Sowohl-als-auch zeigen, dialektisch und geheimnisvoll (wie mit dem versteckten Detail im Selbstbildnis mit bandagierten Händen unten).

Dies ihre Herangehensweise an das Thema der Autobiografie, an die Menschen der näheren Umgebung: kritisch und selbstkritisch. «Dubito, ergo sum», könnte man Descartes Diktum abwandeln. Verspielt aber auch, um die Fantasie für diesen Prozess zu aktivieren.

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Ruth Erdt, E, 2003, © bei der Fotografin

Bis 13. 2. 2011

«Pauline & Pierre» von Hugues de Wurstemberger in der Fotostiftung – Zwischen Traum und Wirklichkeit

In seiner Arbeit «Pauline & Pierre» beschreibt der in Brüssel lebende Schweizer Hugues de Wurstemberger eine faszinierende Gratwanderung zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Hauptrollen spielen seine beiden Kinder, festgehalten in Bildern, die sich einer streng dokumentarischen Lektüre entziehen. Der umfangreichen Wahrnehmung von Pauline und Pierre folgend, entdeckt der Fotograf eine fragile Welt voller Wunder und Geheimnisse: eine Welt, in der Bilder mehr bedeuten als Worte, in der die Magie des Augenblickes stärker ist als die Stimme der Vernunft. So entwickelt er aus den kleinen Fragmenten des Alltags eine grosse und gültige Geschichte. «Pauline & Pierre» ist weit mehr als ein Familienalbum. Es ist eine Meditation über Flüchtigkeit und Dauer, Nähe und Distanz, Ankunft und Abschied, Werden und Vergehen. Eine lyrische Reise in den verlorenen Garten der frühen Jahre, wo das Vergangene so real erscheint wie Gegenwärtiges und Zukünftiges, die Fiktion ebenso wahr ist wie die Fakten.

Gerade diese Form der Annäherung an die Menschen der nächsten Umgebung, etwa der eigenen Kinder oder Enkelkinde, seiner Gattin und Grossmutter, dürfte uns interessante Anregung bieten zu neuen Annäherungen an seine Nächsten. Dass dabei Menschen und Landschaften sich gegenseitig beeinflussen und vermischen, ist bekannt. Wo hört der Mensch auf, wo beginnt die Umwelt, wo hört die Umwelt auf, wo beginnt der Mensch? Die ganze Ausstellung erscheint mir als eindringlicher und sensibler Versuch, mit Bildern dem Chaos der Welt habhaft zu werden.

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Hugues de Wurstemberger, Pierre, 1995, © beim Fotografen

Bis 13. 2. 2011

www.fotomuseum.ch

www.fotostiftung.ch