Georges Rouault: der traurige Clown
In intimer Atmosphäre zeigt die Villa Flora in Winterthur zwei Dutzend Werke des heute zu Unrecht etwas vergessenen Georges Rouault (1871 – 1958), der damit jedoch seine Grösse erneut bestätigt.
Pitre, dit aussi: Tragédien, 1911, Aquarell, Gouache und Pastell auf Papier
Der Franzose Rouault lässt sich nur schwer einer malerischen Stilrichtung zuordnen. Behelfsmässig zählt man ihn etwa zur «École de Paris», andere sehen ihn in der Nähe der «Fauves». Doch mit besseren Argumenten sieht man ihn im Umfeld des literarischen Kreises des «Renouveau catholique», einer konservativen katholischen Erneuerungsbewegung, zu der Autoren wie Georges Bernanos, Charles Péguy, Julien Green, François Mauriac, Paul Claudel und sein Freund Léon Bloy gehörten. Wie diese Autoren heute nur noch selten gelesen werden, so wird auch Rouault nur mehr selten ausgestellt, in der Schweiz zum letzten Mal 1992 und 1997 in Fribourg und Lugano.
Er hat weder einen Stil zu einem Höhepunkt gebracht, noch einen neuen initiiert. Formal sehe ich ihn im Umfeld von Matisse, van Dongen, Vlaminck, van Gogh, Toulouse-Lautrec, Bonnard und Valloton angesiedelt, ohne dass er sich einem davon wirklich verwandt fühlte. Er war stets ein grosser Einzelgänger und dies mit Absicht. Ihn interessierten in erster Linie die Inhalte, die Themen, die Sujets, die gemalten und gezeichneten Menschen, erst in zweiter die Form, die künstlerische Umsetzung. Er sah vor allem das Elend dieser Welt und malte deshalb immer wieder die Benachteiligten dieser Gesellschaft, die Menschen in der Spanne von Glück und Tragik. Dafür hat er seine eigene Form gefunden, um uns den «Ecce homo», verkörpert in verschiedenen benachteiligten, leidenden Menschengruppen, zu zeigen. Der Zweite Weltkrieg veranlasste ihn, seinen erschütternden Passionszyklus «Miserere» mit dem dazugehörigen Bild «Homo homini lupus» (Der Mensch ist des Menschen Wolf) grossartig zu vollenden.
Schein und Sein des Clowns
Der Maler soll mal eine sein Leben und sein Werk prägende Begegnung mit einem alten Clown, der müde und traurig vor seinem Wohnwagen sass, gemacht haben. In ihm erkannte er sich selbst. Einer, der zur Belustigung des Publikums etwas spielt, was nicht seinem Leben entspricht, das ist doch der Clown, wie wir ihn aus dem Leben und aus der Kunst kennen. Seit dieser Begegnung erscheint der Clown in seinem Werk in den verschiedensten Rollen: als Zirkusclown mit der Trommel, als tragischer Mime, als weiser Narr und als scheuer, hinterlistiger Bürgersmann. Mit diesem Versteckspiel nimmt Rouault den Clown als Symbolfigur für ein Leben als Versteckspiel, wie es sich bei vielen Menschen im Alltag abspielt, wie es auch in der Literatur, etwa bei Baudelaire und Rilke, und in der Kunst bei Picasso und Daumier beschrieben wird. Seine Clownfiguren sind nie individualisiert wie in der Renaissance, etwa bei Michelangelo, oder in der Moderne, etwa bei Comensoli. Es sind Typen, vielleicht sogar Archetypen des Clown-Seins, die etwas vorspielen, was sie nicht sind. Dieses Spiel bringt der Künstler mit kräftigen, leidenschaftlichen Pinselstrichen, meist mit Grau gemischten Farben und mit wilden Linien, auf die Leinwand oder das Papier. Oft ist es nötig, lange hinzusehen, bis sich die Details offenbaren, die übermalt, korrigiert und oft gleichsam zerstört wurden.
In die Figur des Clowns vertieft, die Rolle von innen heraus meditierend, wird aus dem Clown dann auch mal ein Christus: der Leidende, der Gekreuzigte, der Schmerzensmann vor allem. Das scheint mir in keiner Weise respektlos oder obszön, im Gegenteil. Es ist die metaphysische Vertiefung des Leids und des Mitleidens, welche Christus auf sich genommen hat in der Rolle des Gottessohnes, der als Menschensohn sich anschickte, die Menschheit zu erlösen und dabei auch Hohn und Gelächter erntete.
La Sainte Face, um 1912, Leimfarbe auf Karton
Advokaten, die den Verurteilten gleichen
Als eine spannende Gegenwelt zu den Clowns beschreibt Rouault in mehreren Bildern Gerichtsszenen. «Sich allein der höchsten göttlichen Instanz verpflichtet», kann sich Rouault nie mit der Tatsache abfinden, dass Menschen über Menschen urteilen. Dennoch – oder eben gerade deshalb – konnte er sich einer gewissen Faszination für die Welt des Gerichts nicht erwehren und zeigt immer wieder, von Daumier inspiriert und motiviert, Rechtsanwälte in ihren roten Gewändern, meist selbstherrlich und maliziös. In einem Aufsatz bemerkt er dazu, dass der Kopf des Richters dem Kopf des Angeklagten zum Verwechseln ähnelt. Damit nicht unähnlich sind auch seine Bilder klerikaler Repräsentanten.
Fille de cirque, 1902, Pastell und Aquarell auf Papier
Schein statt Sein auch bei den Dirnen
In der gleichen Haltung stellt er noch weitere Menschen, die in der Gesellschaft am Rande stehen, in die Mitte seines Oeuvres. Es sind, vor allem in seinem Frühwerk, Prostituierte, die er jedoch nie nach ihrer Berufsbezeichnung als Dirnen tituliert, sondern einfach als Mädchen oder Frauen. Aufmerksam wurde er auf dieses Thema durch seinen Freund Léon Bloy und dessen Roman «Une femme pauvre». Die sogenannten «leichten Mädchen», die von der käuflichen Liebe leben (müssen), übten auf viele Maler jener Zeit eine besondere, je verschiedene Faszination aus, etwa auf Toulouse-Lautrec, Manet oder Degas. Bei Rouault sind es die namenlosen Vertreterinnen einer speziellen Art des In-der-Welt-Seins. Auch diese von der Gesellschaft ausgestossenen und dennoch von Männern verlangten Mädchen und Frauen spielen eine ähnlich Rolle wie die Clowns. Ihr Leid und das Mitleid mit ihnen werden bei Rouault stets vor einer religiösen Warte aus gesehen: «Ich glaube an das Leid, ich trage es nicht als Maske; das ist mein einziges Verdienst», so umschreibt er seine Existenz einmal und fährt fort: «Ich bin der Efeu des ewigen Elends, der sich der aussätzigen Mauer emporrankt, hinter der die rebellische Menschheit ihre Laster und ihre Tugenden verbirgt. Als Christ glaube ich in so ungewissen Zeiten nur an Jesus am Kreuz.»