Georges Seurat: Sinnlich und wissend zugleich

Aus dem Blickwinkel «Figuren im Raum» präsentiert das Kunsthaus Zürich einen der Väter der Modernen Kunst, den Impressionisten Georges Seurat (1859 bis 1891), Weggefährten von Cézanne und van Gogh, dessen Bild «La Tour Eiffel» (1889) repräsentativ für seine Theorie und sein Malen ist.

La Tour Eiffel.jpg/@@images/image/large

Seurat erfüllte die vom freien Farbauftrag lebende Malerei seiner Zeit mit wissenschaftlicher Präzision. Wo nichts war als Licht und Atmosphäre, schuf er rationale Dialoge zwischen den Figuren und dem Raum. Von dieser Leistung zeugen die rund 70 hochkarätigen Gemälde und Zeichnungen, die aus Sammlungen in London, Paris, New York und Washington den Weg ins Kunsthaus Zürich gefunden haben und dort bis 17. Januar 2010 ausgestellt sind. Höchst sehenswert! Auch wenn zwei seiner berühmtesten Werke fehlen; sie dürfen aus konservatorisch-technischen Gründen nicht mehr transportiert werden.

Der wichtigste Pointillist

Neben Paul Cézanne, Vincent van Gogh und Paul Gaugin ist Georges Seurat wohl der originellste Avantgardist der französischen Kunst im ausgehenden 19. Jahrhundert. 1859 in Paris geboren, hat Seurat bis zu seinem frühen Tode mit 31 Jahren den Impressionismus praktiziert, gleichzeitig theoretisch untermauert und damit den Weg für die Kunst ins 20. Jahrhundert vorbereitet.

Angeregt durch die Erkenntnisse neuer Farbtheorien begann er anders zu malen als die Künstler seiner Umgebung. Die individuell geprägten Pinselstriche wichen systematisch gemalten Tupfen, die mit hohem Arbeitsaufwand akribisch nebeneinander gesetzt wurden und die Leinwand wie ein Netz bedeckten. Nicht mehr der künstlerische Ausdruck und die individuelle Handschrift zählten, sondern die Überzeugung, dass sich die reinen Farben in den Augen des Betrachters mischen, bisher unbekannte optische Effekte erzielen und so etwas radikal Neues erschaffen.

Van Gogh und Gaugin waren wie andere Maler ihrer Generation von Seurats Farbpalette und Technik fasziniert. Später schwärmten in Deutschland die Künstler des Bauhauses von seinen ungewöhnlichen Bildkompositionen, der Geometrisierung des Dargestellten sowie der absolut neuen Art der Farbgebung. Der Umgang mit der Figur im Raum stellt eine weitere wichtige Konstante in Seurats Kunst dar – und bildet das zentrale Thema der Zürcher Ausstellung.

Homme couché.jpg/@@images/image/large

Seurat begann mit Zeichnung wie «L’Homme couché» (1883-84), mit dem Crayon Conté, einem weichen Kohlestift, auf weiches Papier geschaffen, wodurch eine höchst differenzierte Textur entstand. Nur höchst selten begegnet man schwarz-weissen Zeichnungen mit solch einer reichen «Farbigkeit». Gezeichnet hatte er während seines ganzen Lebens. Bleistiftstriche überziehen das Papier als dichtes Geflecht und lassen das Motiv als etwas Schwebend-Unbestimmtes hervortreten und wieder verschwinden, weshalb es an Wichtigkeit verlor.

Promenade matinale.jpg/@@images/image/large

In Werken wie «Promenade matinale» (1885), Studie für eines seiner Hauptwerke, «La Seine à Courbevoie», löste er den Bildinhalt, einen Wanderer an der Seine und die ihn umgebende Landschaft, in Punkte und kurze Linien auf, welche sich zu etwas Neuem, einer Farbsymphonie transformieren und verdichten: Von seiner Theorie geleitet, doch gleichzeitig stark emotional und sinnlich. Und nicht um Individuen, sondern um Typen ging es Seurat bei all seinen Figuren.

Etude d'ensemble.jpg/@@images/image/large

Ein leises Vibrieren ist spürbar in Studien wie «Etude d’ensemble pour „Un Dimanche à la Grand Jatte“» (1884), einem seiner grossen Hauptwerke und gleichzeitig einem Meisterwerk des Pointillismus, für den Seurat, neben Paul Signac und teilweise auch Camille Pissarro, steht. Mit diesen Bildern beeinflusste er die französische Avantgarde, die italienischen Futuristen, Léger, van Gogh, Le Corbusier, Picasso und Matisse, welche Seurats wissenschaftliche Erkenntnisse ins 20. Jahrhundert hinein weiter entwickelten.

Le Cirque.jpg/@@images/image/large

In den grossen Gemälden wie «Le Cirque» (1890-91) nimmt nochmals die Darstellung von Personen im Raum eine zentrale Stellung ein. Mit diesem Werk steht der Künstler auf seinem Höhepunkt, in seiner Theorie und Technik, die Farben aufzulösen in rote, gelbe und blaue Punkte und damit eine neue Bildwelt, nie nur ein Abbildwelt zu schaffen. Vollendet hier auch die Gestaltung des Raumes mit den Figuren und dem Dekor. Hier wie in seiner ganzen Kunst war Seurat kein Sinn-, sondern stets ein Form-Sucher. «Kunst ist Harmonie», meint er einmal, sein eigenes Arbeiten charakterisierend.

Emotionen mit Intellekt verbunden

Wie nur bei wenigen Künstlern zeigt sich bei George Seurat, dass grosse Kunst in vielen Epochen zwei Wurzeln haben können: die Emotionen und den Intellekt. Seurat gründet auf beiden Fundamenten und lässt in seinen schönsten Werken beides miteinander verschmelzen. Gerade dieses Miteinander von Denken und Fühlen war denn auch der Grund, dass seine Kunst von andern weiter entwickelt werden konnte. Er war weniger der Vollender des Alten, als vielmehr der Vorbereiter des Neuen, eine Ikone am Übergang zur Moderne: zum Kubismus und zur Abstraktion im 20. Jahrhundert. Dem Kubismus, der das äusserlich Augenfällige in geometrische Formen auflöst und/oder zusammensetzt; der Abstraktion, die sich vom Äusseren völlig verabschiedet und nur noch reines Bild sein will.

Le Chenal de Gravelines.jpg/@@images/image/large

Die von Seurat angestrebte Form und Harmonie erreichten im Bild «Le Chenal de Gravelines: Un soir» (1890), ein Jahr vor seinem Tod gemalt, ihre Vollendung. Bildaufbau, Gewichtung, Äquivalenzen, Farbkontraste stimmen in höchstem Mass, ohne dass darob die ausserordentliche Stimmung und die verinnerlichte Emotionalität verloren gehen. Eines der Bilder, die in ihrer Radikalität eigentlich schon ganz ins 20. Jahrhundert hinüber weisen.

Um das Neue, das die Moderne Kunst gebracht hat, zu verstehen, empfiehlt sich, Georges Seurats Entwicklung zu studieren – und geniessend auf sich wirken zu lassen, wozu sich die Ausstellung in Zürich und der Katalog dazu ausgezeichnet eignen.

www.kunsthaus.ch