Giacometti im Hotel

Gegen hundert Lithos und Radierungen von Alberto Giacometti, einige Plastiken seines Bruders Diego und Dutzende von Künstlerfotografien von Ernst Scheidegger gibt es in der Pensiun Aldier in Sent zu sehen.

Wer nach dem Vereina-Tunnel über Lavin, Guarda, Ardez und Ftan oder von Scuol nach Sent gewandert ist, betritt am Ende des 900-Seelen-Dorfes ein Hotel, Restaurant und Kunstmuseum, das Werke der aus der Gegend stammenden Brüder Alberto und Diego Giacometti ausstellt. Ergänzt werden sie von Künstlerfotografien von Ernst Scheidegger. Hervorgegangen ist das Aldier (Abkürzung aus Alberto, Diego und Ernst) aus dem alten Hotel Reza, das Carlos Gross erwerben konnte. Nach dem Naturgenuss in der unberührten Landschaft und den original erhaltenen Dörfern kann man sich hier am Essen und Trinken, am stilvollen Wohnen und, einmalig in diesem Umfang, an der Kunst erfreuen.

Alberto Giacometti, 1901 in Borgonovo bei Stampa geboren und 1966 in Chur verstorben, gilt als einer der Grossen der Kunst des 20. Jahrhunderts. Und deshalb sind auch seine kleineren Werke wichtig und schön, denn sie bieten einen guten Einstieg in das künstlerische Universum des Meisters. Er hatte Phase des Kubismus, des Surrealismus und anderer Kunstrichtungen durchlaufen und wurde dann zum grossen Gestalter philosophischer Fragen aus dem Geist des Existentialismus.

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Diego Giacometti: Hirschrudel, Bronze

Albertos jüngerer Bruder Diego, Bildhauer und Designer, 1902 ebenfalls in Borgonovo geboren und 2010 in Paris verstorben, war in der Fremde und in der Heimat sein Begleiter und Helfer. Von ihm gefallen in der Ausstellung die kleinen plastischen Figuren. Sein Tierrudel etwa verrät Eleganz, seine Vögel strahlen Innerlichkeit aus. In den Nebenräumen und Gängen hängen Werke des heute neunzigjährigen Magnum-Fotografen Ernst Scheidegger: aussagekräftige, einfühlsame Porträts von Miró, Dali, Chagall, Varlin, den Giacomettis und weiteren Künstlern des 20. Jahrhunderts. Dass diese Fotos hier vereint gezeigt werden können, beruht auf einer Freundschaft zwischen Scheidegger und Gross, die bis in die 80er-Jahre zurückreicht.

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Diego Giacometti: Vögel

Die vielen Werke hat Carlos Gross während der letzten Jahre in der ganzen Welt gesammelt, zu einer Sammlung vereint und in den durch den Bündner Architekten Turi Vital gestalteten Räumen gehängt. Sie laden Besucher zum Verweilen und Geniessen ein. Den Mittelpunkt bildet die fast vollständige Sammlung der Lithos und Radierungen von Alberto Giacometti im stimmigen Gewölbekeller. Flankiert werden sie in den Nebenräumen von weiteren Werken Albertos, Bildnissen seiner Mutter und von Diego, Selbstbildnissen, Aktbildern und Stillleben, Innenräumen und Landschaften sowie weiteren Figuren von Diego. Eine Überraschung war für mich «L’Homme qui marche» von Alberto Giacometti, ein Motiv, das ihn sein Leben lang, vor allem in seinem plastischen Werk, beschäftigte. In der ausgestellten Skizze verschwindet der Gehende fast völlig, löst sich im Nichts auf und versinkt im Schweigen. Für mich persönlich das schönste Werk der Ausstellung, weil der Künstler hier an die Grenze des Darstellbaren geht. Andere Werke lassen uns den Entstehungsprozessen seines Schaffens folgen.

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Das Museum, ein Raum, der zum Betrachten und Verweilen einlädt.

Eine Radiosendung aus «Kultur kompakt» vom 22. Mai 2013 bringt einen aufschlussreichen viertelstündigen Beitrag über das Aldier, aber auch andere Hotels, in denen Kunst Einzug hält. – Wenn ich einen Wunsch anbringen darf: Es wäre schön, wenn zu dieser Ausstellung ein kleiner Katalog mit den nötigen Daten erstellt würde, womit die einzelnen Exponate eingeordnet und in Bezug gesetzt werden könnten zu anderen Werken in Schweizer Museen.

www.aldier.ch