Giogio Morandi

Der Maler der erfüllten Stille

Das Museo d’Arte Lugano lädt ein, das aussergewöhnliche Oeuvre von Giorgio Morandi (1890 bis 1964) neu zu entdecken oder wieder zu betrachten.

Die Ausstellung ist eine Hommage an den grossen Italiener und eine seltene Gelegenheit, das Unbekannte des Weltbekannten zu bewundern. Eigentlich meint man ihn zu kennen, den Maler mit den immer gleichen Vasen, doch bei näherem Betrachten entdeckt man immer Neues in diesem Reichtum der Reduktionen. Exemplarisch und thematisch geordnet ist sein Werk, von den frühen Entwürfen bis zu den späten Meisterwerken. Da hängen seine berühmten Stillleben, sozusagen die Landschaften im Kleinen, daneben seine weniger bekannten Blumen und schliesslich seine Landschaften, sozusagen die Stillleben im Grossen. Es sind rund einhundert Werke, Ölgemälde, Zeichnungen, Aquarelle und Gravuren, aus privaten und öffentlichen, italienischen und schweizerischen Sammlungen, einige davon werden erstmals in Lugano, einem Ziel seiner seltenen Auslandreisen, gezeigt.

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Natura morta, 1920, © ProLitteris

Auf dem Weg in die Stille …

Die Ausstellung gibt einen repräsentativen Überblick über sein Gesamtwerk. Viele sind in einer Zeit entstanden, als um ihn herum die italienischen Futuristen sich der Technik, der Geschwindigkeit und zum Teil auch dem Faschismus verschrieben haben. Doch sie strahlen Ruhe und Innerlichkeit aus, wurden zu eigentlichen Ikonen der Stille, kommen aus der Stille und führen zu ihr zurück. Er malte, könnte man sagen, im «piano» oder «pianissimo». Selbst wenn er sich aus der Ferne mit den französischen Kubisten auseinandersetzte, blieb er, von ihnen wenig beeinflusst, sich selbst treu, den andern fremd. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens konzentrierte er sich vornehmlich auf Stillleben, daneben Landschaften, bevorzugt während seinen Sommeraufenthalten im Bergdorf Grizzana entstanden, und Blumenbilder, sozusagen als die Vereinigung von Stillleben und Landschaften.

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Fiori, 1920, © ProLitteris

… und zum Grau der Erde

Morandi war in seinem ganzen Oeuvre ein «Entschleuniger», er vertrag eine Idee, die in den letzten Jahrzehnten besonders von Philosophen wie Paul Virilio (*1932) weiter verfolgte und als Gegenentwurf gegen das entmenschlichende Tempo propagierte. Etwas Philosophisches, ja Mönchisches strahlen seine Bilder aus, die mehrheitlich in Grau, Braun und Beige gehalten sind, oder wo Grün, Blau und Geld nötig sind, diese mit Grau, Braun und Beige gemischt sind. Farblich der Erde, von der wir kommen und zu der wir gehen, also dem «Memento mori» verpflichtet.

Die Betrachtung von Morandis Gravuren bieten sich als Einstieg in sein Werk an. Die verschieden gerichteten Schraffuren erzeugen Töne im Schwarz-Grau-Bereich, erschaffen Hell und Dunkel, je nachdem, wie viel und wie eng sie sind. Weiss entsteht aus wenigen, schwarz aus vielen Strichen pro gegebene Fläche. Vielleicht liegt hier in der Technik bereits ein Schlüssel zu Morandis schweigender Farbigkeit.

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La strada bianca, 1939, © ProLitteris

Die Stille erfüllen …

Als Stillleben bezeichnet die europäische Kunsttradition die Darstellung toter Gegenstände wie Blumen, Früchte, Gläser und Instrumente, welche in der Auswahl und Gruppierung inhaltlichen, oft symbolischen oder ästhetischen Aspekten folgen. Morandi gehört unbestritten zu den Grossen dieses Genres. Er erschafft Leben mit leblosen Dingen: das Leben der reinen Formen und Farben! Plausibel zeigt er, dass in der bildenden Kunst nicht die Dinge an sich wichtig sind, sondern die Art und Weise, wie sie abgebildet werde, deren Transformation vom Natur-Ding zum Kunst-Werk.

Es geht bei ihm um das Arrangement der Vasen, Gläser, Büchse: Wie sie nebeneinander, wie sie zueinander stehen, welche Nähe und Distanz sie einnehmen, und dann um das Licht, in das sie gehüllt sind, und die Perspektive, von welcher sie gezeigt werden. Es gibt in der Ausstellung Stillleben, bei denen ich das Gefühl habe, die Vasen, Gläser und Büchsen seien Menschen, die miteinander im Gespräch sind. Ich erlebe ein Welttheater en miniature.

… ins Undefinierte tauchen

Bei einigen seiner Bilder hat der Maler Sand in die Farben gemischt, dass die Konturen der Gegenstände nicht exakt erscheinen, sondern unscharf und damit für Deutungen offen. Er könnte damit, vielleicht unbewusst, eine Befindlichkeit des modernen Menschen vorweggenommen haben: die Unbestimmtheit, Unklarheit, etwas Unexaktes, Unentschiedenes. Werner Heisenberg hat das gleiche Phänomen 1927, also etwa zur gleichen Zeit wie Morandi, in seiner «Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation» für die Physik beschrieben. Wo gibt es noch klare Grenzen? Wo gibt es noch Sicherheit? Diese fragen wir heute, wenn wir ehrlich sind, ohne darauf eine Antwort zu erhalten. Das sagen mir auch diese Werke.

Solche Unschärfe erweist sich jedoch nicht als Verlust, sondern als Gewinn. Einzelne Vasen und Gläser können als Positivform und gleichzeitig als Negativform gelesen werden. Was ist denn heute, so frage ich, noch verbindlich, was positiv, was negativ? Seine Haltung zu diesen Fragen macht für mir Morandis Oeuvre modern.

 

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Natura morta, 1952, © ProLitteris

Giorgio Morandi führt in die Moderne: mit seiner Unschärfe, seiner Offenheit, seiner Innerlichkeit, seiner Stille, seiner Langsamkeit. Für zahlreiche andere Künstler war und ist er Vorbild, was die Luganeser Ausstellung dokumentiert. Es lassen sich Vergleiche anstellen etwa mit Bernd und Hilla Becher, Stuart Arends, Franco Vimercati, Craigie Horsfield, Franco Vimercati, Rachel Whitheread und mit Lawrence Carroll, die sich mit ihren eigens für die Ausstellung geschaffenen Werke ausdrücklich auf ihn beruft. Auch Filme der 50er-Jahre, so von Fellini und Antonioni, verweisen auf ihn, zeigen das Interesse intellektueller Schichten an seinen Bildern, indem diese im Hintergrund der Räume zu sehen sind in «La dolce vita» respektive «La notte».

Die Ausstellung im Museo d’Arte Lugano ist ein italienisch-schweizerisches Gemeinschaftsprojekt, kuratiert von Maria Cristina Bandera und Roberto Longhi, Marco Franciolli, Maria Pasini und Simona Tosini Pizzetti. Ein interessanter Katalog, herausgegeben von Maria Cristina Bandera und Marco Franiolli, kann einen Besuch nachwirken lassen.

Als Möglichkeiten, sich dem Künstler einmal anders zu nähern, bieten sich einige Youtube-Videos an, zum Beispiel «The Painter of the silence», eine Yoga Zen-Zen-Meditation vom 4. September 2009: http://www.youtube.com/watch?v=nvfH7OW8BW8. Als schönen Ausklang bietet sich auch ein Abstecher nach Bologna in die Casa Morandi, Via Fondazza 36, und auf der Rückreise vielleicht ein Besuch des Bergdörfchen Grizzana-Morandi, 54 Kilometer von Bologna, über die Hügel Richtung Florenz.

Bis 1. Juli 2012

www.mda.lugano.ch

http://maps.google.ch/maps?hl=de&tab=wl