Gottfried Honegger

34699 gelebte Tage: Einer der grossen Frager und Sucher schaut fragend und suchend auf sein Leben.

Gottfried Honegger, 1917 in Sent im Unterengadin geboren, machte eine Lehre als Schaufensterdekorateur und bildete sich an der Kunstgewerbeschule Zürich aus. Dann arbeitete er als Werbegrafiker, Designer und Art Director. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in New York City entschloss er sich im Jahr 1958 zur Tätigkeit als freier Künstler. Von 1960 an lebte und arbeitete er in Paris, Cannes und Zürich, wo er heute noch wohnt. Verheiratet war er mit der Schweizer Illustratorin Warja Lavater. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der konstruktiv-konkreten Kunst. Seit Mitte der 60er Jahre schuf er immer häufiger grossflächige und raumgreifende Bilder und Skulpturen für den öffentlichen Raum.

Geehrt wurde er als Maler und Bildhauer vor allem im Ausland, so als Träger des «Ordre des Arts et des Lettres» und Mitglied der französischen «Ehrenlegion». Mit seinem kleinen Büchlein «34699» blickt er zurück, vergegenwärtigt er die Orte, die Menschen und stösst dabei auch auf einige seiner Werke. Wie im menschlichen Gedächtnis tauchen Sätze und Bilder, Fotografien und Dokumenten auf und erfreuen oder provozieren uns zu eigenem Denken. Seine lyrische Prosa ist abstrakt, auf das Wesentliche beschränkt, von allem Nebensächlichen befreit, chronologisch geordnet, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Eine Rekonstruktion seines Lebens und, da er ein gesellschaftliches, ein politisches Wesen ist, auch eine Rekonstruktion eines Jahrhunderts. «Mit diesem Buch will ich zeigen, dass ein Leben, so man es ernst nimmt, Märchen wahr macht. Diese biografische Skizze entstand ganz spontan. Text und Bilder stellen keinen Anspruch auf Gründlichkeit. Ich wollte einfach meine Spuren noch einmal erleben. Für mich ist es so etwas wie ein Skizzenbuch, über die 34699 gelebten Tage.» Wie jedes Skizzenbuch hat es dieses autobiografische Werk in sich, nicht fertig zu sein, nicht fertig sein zu wollen, sondern als Anrede an uns, die eine Antwort verlangt oder erhofft, verstanden zu werden.

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Honegger ist heute 95 Jahre alt und arbeitet noch täglich von 8 bis 17 Uhr im Atelier: als Arbeiter, Handwerker, Intellektueller, der Grosses geleistet hat und immer noch leistet, ein Denker und Künstler, der etwas zu sagen hat und auch sagt, ob es erwünscht ist oder nicht. Das ist Gottfried Honegger. Ein Mensch, der mit Leidenschaft seine Werte vertritt. Ein Citoyen, der sich einmischt in die Gesellschaft, wie es Max Frisch machte, den er in seinem Text «als einzelkind» würdigt (wie immer klein geschrieben und ohne Satzzeichen):

«er liebte es

in meinem atelier

zu arbeiten

wir wurden

politisch aktiv

wir fühlten uns

als bürger mitverantwortlich»

Auch wenn er zu seinem Geburtstag am 12. Juni diese «biografische Skizze» geschrieben hat, richtet sich sein Fokus grundsätzlich weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft, sondern in die Gegenwart. Denn nur die Gegenwart ist die Zeit und der Raum, die es zu gestalten, mitzugestalten gilt. Bei Honegger sind Denken und Tun, künstlerisches und politisches Werk identisch. «Biografien sind für mich Lehrbücher. Persönlichkeiten hinterlassen die Ernte ihres Lebens. Biografien zeugen von Menschen, die in und mit der Zeit aktiv gelebt haben. Meine autobiografische Skizze schrieb ich, um so meinem Lebensweg nachzugehen, ihn zu werten und zu verstehen. Ich bin kein Monolith, ich bin ein Bürger, der 95 Jahre lang versucht hat, dank seiner Vorbilder das Lebenswunder mit Achtung zu bestehen.»

Auch wenn er heute weiter arbeitet, bringt das Alter dennoch eine neue Dimension in sein Leben, der er sich stellt: «Mit neunzig hat man nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen.» Ein Satz, der mich motiviert, die verbleibende Zeit zu nutzen in einer Freiheit, die nur das Alter gibt. «Zurzeit denke ich über das Aufhören nach (…). Ich kann meine Arbeiten nicht mehr sicher beurteilen. Vielleicht falle ich morgen früh tot um, und der Fall ist erledigt.» Ohne die Realität des begrenzten Lebens zu verwedeln, spricht er die Tatsachen offen an. «Vielleicht höre ich mit der Malerei auf und schreibe nur noch. Schreiben kann ich, weil ich daran nicht so hohe formale Ansprüche stelle. Ganz aufhören kann ich nicht, weil ich dann krank werde, wie alle alten Leute.» Auch diese Bemerkungen zeugen von einer ehrlichen und realistischen Einschätzung und von Beweglichkeit und Flexibilität, die vielen Alten abgehen. Soweit ein paar Sätze aus einem Interview mit Gottfried Honegger in der WOZ Nr. 23/07.

Mehr über und von Gottfried Honegger

Eine kurze Einführung bietet die Tagesschau vom 8. Juni 2012:

http://www.videoportal.sf.tv/video?id=5e29f4a7-2747-4476-b9f7-57acd7926a83

Eine vertiefte Auseinandersetzung liefert die Sternstunde vom 22. April 2012: http://www.sendungen.sf.tv/sternstunden/Nachrichten/Archiv/2012/04/17/sternstundeneinzel/Sternstunde-Kunst-vom-22.-April-2012

Gottfried Honegger: 34699. Eine autobiografische Skizze, 152 Seiten, 59 Fotografien und farbige Abbildungen, Klappenbroschur, Limmat Verlag, Zürich 2012