HCB der Grosse!
Der Fotograf Henri Cartier-Bresson (1908 – 2004) hat das 20. Jahrhundert in seinem Oeuvre gültig abgebildet: das Jahrhundert, in welchem viele unserer Erinnerungen verortet sind. Und HCB umspannt mit seinen Werken den Kreislauf des Lebens, in dem wir uns positionieren.
Dass ich mit meinem (im Titel formulierten) Urteil nicht allein bin, bestätigt mir sein Berufskollege Richard Avedon: «HCB ist der kompletteste, wichtigste von uns allen – in allen Gesichtspunkten: Ob sozial oder politisch – er deckte alles ab. Er ist schlicht der beste Fotograf des 20. Jahrhunderts.»
Sonntag an den Ufern der Marne, Frankreich, 1938
Die aktuelle Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich ist seit 1956 die erste umfassende seines Gesamtwerkes in der Schweiz. Zu sehen sind 300 herausragende Werke, chronologisch geordnet, Länderreportagen und Porträts, seine Publikationen und Faksimiles aus allen Schaffensperioden, zwei Dokumentarfilme und erstmals das berühmte «Scrap Book», mit dem sich der Todgeglaubte am Museum of Modern Art zurückgemeldet hatte. Ergänzt werden die Fotografien mit Piano-Matineen seiner Lieblingsmusik, Fachgesprächen, Sonderveranstaltungen, einem informativen Flyer und einem Dokumentarfilm von Heinz Bütler, der sich als Einführung eignet.
Sevilla, Spanien, 1933
Fotografien von Menschen und Ländern
Kaum ein anderer beherrscht Bilddramaturgie, -komposition und -ausschnitt so vollendet wie HCB. Seine Fotos wirken, als hätte er sie sorgfältig inszeniert, und doch sind sie in Sekundenschnelle entstanden. «Sehen, zielen, auslösen und verduften», heisst sein Rezept. Sie halten Momente der Weltgeschichte und Augenblicke privater Geschichten fest und laden zu deren Lektüre ein. Die Porträts berühmter Persönlichkeiten, wie jene von Sartre, Simone de Beauvoir, Camus, Matisse oder Picasso, gehören zum Bilderkanon der Moderne, und seine Szenen aus der Weltpolitik liefern eine visuelle Narration des letzten Jahrhunderts, mit Dokumenten von Gandhis Ermordung, dem Anfang der kommunistischen Herrschaft in China, der Zeit nach Stalins Tod in Russland.
«Ein Porträt ist für mich das Schwierigste. Es ist sehr schwierig. Es ist ein Fragezeichen, das man auf jemanden richtet», meint er, und weiter: «Fotografieren bedeutet, den Kopf, das Auge und das Herz auf dieselbe Visierlinie zu bringen. Es ist eine Art zu leben.» Seine Fotos geben eine Fülle von Antworten auf diese Fragezeichen, wenn man sich nur lange genug auf sie einlässt. «Für mich ist Fotografie die im Bruchteil einer Sekunde sich vollziehende Erkenntnis von der Bedeutung eines Ereignisses und gleichzeitig die Wahrnehmung der präzisen Anordnung der Formen, die dem Ereignis seinen typischen Ausdruck verleihen.»
Typisch für ihn war es, was er erlebte, als er nach dreimonatiger Fahrt durch die Staaten anstelle stereotyper Bilder endloser Prärien oder gigantischer Wolkenkratzer sein düsteres, pessimistisches Porträt des Landes vorlegte. «Ich bin vor allem Reporter. Doch geht es mir zugleich um etwas Persönliches: Meine Fotos sind mein Tagebuch. In ihnen spiegelt sich der universelle Charakter der menschlichen Natur.» Der Verleger weigerte sich, das Buch zu veröffentlichen. Und es sollte bis 1991 dauern, bis es dennoch erscheint. Cartier-Bresson war kein Ideologe, weder im Positiven noch im Negativen, kein « embedded journalist», sondern ein für die ganze Welt, das ganze Leben, die «Conditio humana» Engagierter, ein Humanist als Fotograf, den er wie folgt beschreibt: «Das eine Auge des Fotografen schaut weit geöffnet durch den Sucher, das andere, das geschlossene, blickt in die eigene Seele.»
Weniger bekannt als sein fotografisches Oeuvre sind seine Zeichnungen und seine Filme. Er assistierte einst Jean Renoir bei «La règle du jeu» und «Une partie de campagne» und führte Regie und Kamera in den Dokumentarfilmen «Victoire de la vie» und «L’Espagne vivra» über den Spanischen Bürgerkrieg. Das Museum zeigt zwei weitere halbstündige Dokumentarfilme: «Le Retour» über die Rückkehr der Lagerhäftlinge und Kriegsgefangenen aus den Jahren 1944/45 sowie «California Impressions», ein Dokumentarfilm in Farbe über die aus dem Jahre 1969 - 1970. – Die Skizze seiner kleinen Tochter, im Bütler-Film gezeigt, dürfte eines der zauberhaftesten Kinderbilder der Kunstgeschichte sein.
L’Aquila, Abruzzen, Italien, 1951
Der «moment decisif» des Meisters
Alles in der Welt von HCB hat seinen «moment decisif», seinen entscheidenden Augenblick. Denn: «Ich bin ein visueller Typ, ich beobachte, beobachte, beobachte. Ich begreife die Dinge durch meine Augen.» Mir sind keine andern Fotografien bekannt, deren Inhalte dergestalt in die Form, die Geometrie, die Perspektiven und Äquivalenzen eingebunden sind wie jene von Cartier-Bresson. Eingebunden und damit geborgen sind immer auch die Menschen bei ihm. Vielleicht ist es seine unbewusste Botschaft, dass alle Menschen zusammen mit der Natur und der Kunst eine Einheit bilden, dass wir nicht «geworfen», sondern eingebunden und damit geborgen sind.
«In einer Hundertstelsekunde sind wir alle gleich, sind wir alle im Zentrum unserer Menschlichkeit. Cartier-Bresson hat die Ewigkeit fotografiert», schreibt Jean-Paul Sartre über ihn. Und in einem Brief an seine Tochter meint auch er, «dass die Fotografie in einem Augenblick die Ewigkeit festhalten» könne. Für die Betrachter bleibt es nicht beim blossen Wahrnehmen des Gezeigten, sondern wird es zu einem für wahr Nehmen einer umfassenden Wirklichkeit.
New York City, USA, 1947
Für alle hier verwendeten Fotografien gilt © Henri Cartier-Bresson/Magnum Photos