Henri Rousseau: Seine Reise in den Dschungel

Einhundert Jahre nach dem Tod des französischen Malers Henri Rousseau widmet die Fondation Beyeler diesem Pionier der Moderne eine Ausstellung mit 40 repräsentativen Werken, die zu einem neuen Sehen, Fühlen und Denken anregen.

Henri Rousseau (1844 bis 1910) hat mit seiner Malerei Grenzen überwunden und neues Terrain betreten, obwohl der ehemalige Zöllner – oder vielleicht gerade weil er – keine Kunstschule besucht hat und anfänglich nur in seiner Freizeit das malte, was und wie er gerade wollte. Lange als naiver Maler verkannt, schaffte er, auch nachdem er sich ausschliesslich der Malerei widmete, den Durchbruch in den Pariser Salons erst spät. Es waren Dichter wie Apollinaire und Künstler wie Picasso, Léger, Delaunay, später Kandinsky, Beckmann und Frida Kahlo, die seine herausragende Bedeutung erkannten. – Die Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen gibt einen schönen Überblick über das Oeuvre und lässt durch kluge Hängung der Bilder, ergänzt durch Werke anderer Künstler in den Nebenräumen die Geniologie seines Schaffens erkennen und verstehen.

Von Paris...

Nachdem die Impressionisten und ihre Erben einen neuen Blick auf und neue Theorien über das Sichtbare entwickelt hatten, erschloss Rousseau der Moderne neue Quellen jenseits akademischer Lehren. Nur vermeintlich mit naiven künstlerischen Konzepten schuf er das Genre der imaginären, erträumten Landschaft. Der Surrealist Breton meinte, bei Rousseau könne man erstmals von „magischem Realismus“ sprechen, der seinen Höhepunkt in seinen Dschungelbildern finde. Doch was zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu den weltweit bekannten Meisterwerken führte, wurde schon zuvor in seinen Bildern von Paris, den Landschaften, den Porträts, Allegorien und Genreszenen vorbereitet.

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Die Repräsentanten der auswärtigen Mächte kommen, um der Republik im Zeichen des Friedens zu huldigen, 1907, © RMN Paris, © René-Gabriel Ojéda

Zu entdecken sind in der Ausstellung aussergewöhnliche Porträts und unerwartete Ansichten französischer Städte, Dörfer und Landschaften, in denen er im Alltäglichen den Übergang zum Geheimnisvollen sichtbar machte. Selbst da, wo das Gezeigte auch keinesweg der Historie entsprich wie bei der Szene mit den „Repräsentanten der auswärigen Mächte“. Weit entfernt sind diese Werke vom damals aktuellen Impressionismus, der sich dem Spontanen und Flüchtigen verschrieben hat. Was macht Rousseau anders? Ich denke, er sah draussen in der Natur Dinge, die er dann im Atelier zu einem Bild komponierte. Lange bevor die Collage-Technik erfunden war, collagierte Rousseau seine Bilder, setzte sie aus verschiedenen Elementen zusammen. Was trieb ihn an? Ich denke, es sind seine inneren, archetypischen Bilder, die er auf der Leinwand festzuhalten versuchte. Vielleicht ging es ihm ähnlich wie uns, wenn wir etwas zu gestalten versuchen: Wir probieren und probieren, bis etwas in uns sagt: Stopp, so muss es sein! Also bis das äussere Bild mit dem inneren übereinstimmt. Anders als etwa Arp, der farbige Papiere fallen liess, signierte und sagte: Ich gestalte nach den „Gesetzen des Zufalls“. 

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Der Wagen des Vaters Junier, 1908, © RMN Paris, © Frank Raux

durch Landschaften...

In seinen Genrebilder und Landschaften sind die Menschen stets Teil der Szene, Teil der Natur, gleichwertig mit anderem Gleichwertigen ein Ganzes bildend. Die Realität ist bei ihm nicht Abbild der Dingwelt, sondern Abbild einer inneren Welt,  des Unbewussten, seiner Träume, angereichert mit Versatzstücken aus der Aussenwelt. Die Elemente seiner Bilder sind idealisiert, stark vereinfacht, treten unverbunden und überraschend nebeneinander, mit einem Hintergrund, der genauso scharf gezeichnet ist wie der Vordergrund. Die Figuren zeigen sich meist frontal oder in strengem Profil. Rousseau liebte klare Konturen und harte Kontraste. Er verwendete leuchtende Farben, ohne Schattenwurf, schön zu sehen etwa beim „Wagen des Vaters Juvien“. Seine Wirklichkeitsrezeption gründet auf der Beobachtung, Nachbildung und der Umwandlung in ein Bild, eine Creatio sui generis.

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Porträt des Herrn X (Pierre Lotti), 1910, © Kunsthaus Zürich

Wenn bei den Porträts die Menschen im Vordergrund stehen, sind diese eingebettet in die Natur, vor und zwischen Bäume, Sträucher und Blumen, zusammen mit Tieren, die mit ihrer Mimik und Gestik mit dem Ausdruck der Menschen korrespondieren, diesen verstärken, ergänzen oder auch mal konterkarieren, wie beim „Porträt des Herrn X“. Henri Rousseau ist Realist, doch nicht nach den Regeln der äusseren, sondern einer inneren Realität. Weshalb auch nicht alles anatomisch stimmen muss.

Bei seinen „Porträt-Landschaften“ drängt sich die Frage auf, ob hier eigentlich die Landschaft den Menschen beschreiben oder die Menschen die Landschaft. Es ist gegenseitig: Die Landschaften sind Teil der Psyche der Menschen, die Menschen sind Teil der Psyche der Landschaft. Weshalb funktioniert das? Weil wir Menschen das Subjekt sind, das die Landschaft zum Objekt macht. Wir füllen die Landschaften durch unser Betrachten mit Leben, und die Landschaften werden Teil unserer Befindlichkeit.

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Die Ballspieler, 1908, © Salomon R. Guggenheim Museum New York

bis in den Dschungel des Lebens...

Als ich vor 50 Jahren im Zeichenunterricht am Lehrerseminar ein Selbstbildnis zu machen hatte, zeichnete ich eine sitzende Katze in Frontalansicht, und signierte sie mit „Mensch, der nicht weiss, warum er da ist“. Diese Erfahrung verhilft mir, so meine ich, die Dschungelbilder von Henri Rousseau zu verstehen, der in seinem Leben nie einen Urwald gesehen hat.

Alles ausserhalb von mir ist gleichzeitig ein Teil von mir. Die ganze Welt ist Ich, denn sie existiert, indem ich sie sehe. Folglich ist die ganze Flora und Fauna dieser Bilder ein Teil von  Rousseau – ein Teil von mir, ein Teil von uns. Vielleicht sind die Geschichen, die Dramen, die Komödien und Tragödien, welche die Dschungelbilder erzählen, alles Ausformungen unserer Sehnsüchte, Hoffnung, Ängste, Wünsche, Freude, Trauer, Wut, Lust. Alles, was auch in unseren Tag- und Nacht-Träumen vorkommt. Rousseaus eigentlicher Beitrag an die Moderne ist vielleicht die wieder gewonnene und inaugurierte Phantasie, die sich um die äussere Wirklichkeit foutiert und von einer inneren lebt. Weiter gegangen sind diesen Weg später Surrealisten wie Dali, Magritte, Max Ernst in reinen Traumbildern und Kubisten wie Braque, Picasso, Gris mit ihren neuen Gestaltungsstrategien.

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Urwaldlandschaft mit untergehender Sonne, um 1910, © Pro Litteris Zürich und Martin P. Bühler

... und schliesslich ans Grab.

Nur zu wenigen Künstlern passt meine private Definition von Kunst so gut wie bei Henri Rousseau, dem ersten grossen europäischen Wilden: „Wenn Kunst von Können kommt, kommt sie von Nicht-Können.“ Gemeint ist, dass grosse Künstler oft weniger agieren denn reagieren, also das ausführen, was jemand oder etwas mit ihnen macht. Wie bei Rousseau, der „Geburtshelfer“ wirkt bei der Entstehung seiner Bilder, der dafür seine Hände anbietet. Genau so wie in der Religion, wo der Mensch auch von etwas oder jemand ergriffen wird. So passt zu ihm, was auf seinem Grabstein geschrieben steht. Apollinaire schrieb das Epitaph, Brancusi meisselte die Buchstaben in den Stein:

„Freundlicher Rousseau, du hörst uns.
Wir grüssen dich,
Delaunays Frau, Monsieur Quéval und ich,
lass unsere Koffer zollfrei durch die Pforte des Himmels,
wir bringen dir Pinsel, Farben und Leinwand,
damit du malest in der geheiligten Muße des wahren Lichts
wie einst mein Bildnis:
das Angesicht der Sterne.“

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Tropischer Wald mit Affen, 1910, © National Gallery of Art Washington

Andere Wege zum Werk von Henri Rousseau

Seit über hundert Jahren prägt die Psychologie das Bewusstsein der Gesellschaft. Sie dürfte weitere Zugänge zu einem Oeuvre wie demjenigen von Henri Rousseau, dem Zöllner, bereit haben. Seine Bilder, so haben wir gesehen, sind so etwas wie auf Leinwand gebannte Träume. Und Träume bilden doch anerkannt eine Domäne der Psychologie. – Nachfolgend einige Hinweise aus Wikipedia, gekürzt und bearbeitet, Wege, wie man sich auch dem Werk eines Künstlers nähern kann.

Freuds Theorie zufolge wohnt den Träumen weder ein prophetischer Gehalt inne, noch handelt es sich um Produkte einer bloßen Verarbeitung vorheriger Tageserlebnisse. Vielmehr enthält jeder Traum eine intime „Botschaft“ über die von den Erfahrungen der Kindheit massgeblich bedingte Situation des Träumenden. In der Tiefenpsychologie steht daher die systematische „Entschlüsselung“ der Träume im Dienste der Selbsterkenntnis.

C. G. Jung, ein ehemaliger Schüler Freuds, verstand den Traum als unmittelbar deutlich werdende Darstellung der inneren Wirklichkeit des Träumenden, d. h. es bedarf von diesem keine freien Assoziationen, um den Traum verstehen zu können. Jung prägte den Begriff des „kollektiven Unbewussten“, einen Bereich, aus dem Menschen kulturunabhängig gleiche Grundassoziationen gewinnen können, z. B. den Animus und die Anima als Archetypen.

In der Gestalttherapie werden Träume als existenzielle Botschaften des Träumenden betrachtet. Die psychoanalytische Traumdeutung wird ersetzt durch die szenische Darstellung des Traumes sowie durch Dialoge mit ausgewählten Traumteilen. Der Träumer kann die vorkommenden Personen und Gegenstände als enteignete Teile von sich und seiner Umwelt erforschen, erkennen und integrieren.

Gemäss Daseinsanalyse ist Träumen eine Art In-der-Welt-Sein wie der Wachzustand, mit dem Unterschied, dass dem Träumer nur das erscheint, was seiner stimmungsgemäßen Befindlichkeit weitgehend entspricht. Träume geben Aufschluss über Offenheit und Verschlossenheit gegenüber den eigenen Seinsmöglichkeiten. Es gibt keine Sinnsuche hinter der erinnerten Traumoberfläche, es werden nur die erkennbaren Bedeutungsgehalte erfragt.

Die Klientenzentrierte Psychotherapie orientiert sich am manifesten Trauminhalt. Bei der Interpretation werden Traumstimmung, Traumwahrnehmung und Taumhandlung aufgegriffen und als Möglichkeit zur Selbstaktualisierung eingesetzt. Als Selbstaktualisierung wird die innere Kraft zum Wachstum und zur Selbstverwirklichung verstanden.

Focusing versteht in der Traumarbeit einen Zugang zu bewusstseinsfernen Persönlichkeitsanteilen. Gedeutet werden körperliche Reaktionen, wenn der Träumer im Wachzustand wieder in die Traumbilder eintaucht. Die Befragung über die körperliche Resonanz ermöglicht dabei neue Bedeutungsaspekte. Der Träumer kann auch die Rolle von Teilen seines Traums einnehmen, wie bei der Gestalttherapie.

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Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope, 1898/1905, © Fondation Beyeler

www.beyeler.com