Hymne an das Sehen

Der Schriftsteller John Berger verarbeitet seine Operationen des grauen Stars zu einem kleinen und wunderbaren Büchlein: «Vom Wunder des Sehens».

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Auf dem aktuellen Büchermarkt gibt es Beigen von Titeln mit maximalen Volumina und minimalen Werten. Nur selten stösst man auf ein kleines Buch mit grosser Wertschöpfung. Ein solches ist «Vom Wunder des Sehens» von John Berger. Seine äusseren Masse: 69 Seiten, 172 x 111 x 9 Millimeter und ein auf den ersten Blick alltäglicher Inhalt, den die meisten älteren Mensch kennen, der graue Star. Das Büchlein handelt von zwei Staroperationen, die der Schriftsteller durchmachen musste. Was er aus diesem Inhalt jedoch gemacht hat, das ist gross, eine Sensation.

Öffnet man das Bändchen, sieht man auf den linken Seiten Bergers Text in kurzen, einfachen und dennoch gewichtigen, inhaltsträchtigen Sätzen über das, was er vor, während und nach der Operation erlebt hat. Auf den rechten Seiten kommentiert der international bekannte Karikaturist Selçuk Demirel mit witzigen, hintergründigen Zeichnungen die meditativen Texte. Ergänzt wird dies mit zwei Zeichnungen des Autors: Stiefmütterchen, die er vor und nach der zweiten Operation gezeichnet hat. Das erste hat kaum Farbe, die Blüte scheint neben dem Stängel zu stehen; beim zweiten stemmt sich eine blaue Blüte aus einem grünen Stängel.

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Stiefmütterchen: links am 24. 3. 2010, rechts am 30. 3. 2010 entstanden

Vor und nach den Operationen

«Katarakt, von griechisch „kataraktes“, bedeutet „Wasserfall“ oder „Fallgitter“, also eine von oben herabfallende Behinderung. Das Fallgitter vor dem linken Auge ist entfernt. Auf dem rechten Auge ist die Katarakt, der graue Star, noch da.» So führt der Autor an das Ereignis heran, dessen Beschreibung er nach der zweiten Operation wie folgt abschliesst: «Die vertraute Vielfalt der Welt ist wiedergefunden. Es ist wie ein Wunder. Und beide Augen, vor denen der Schleier gefallen ist, registrieren Staunen, wieder und wieder.» So wie es wohl allen ergangen ist, die die Operation schon erlebt haben.

Sanft lädt er zum Staunen ein, wie es Philosophen und Künstler schon immer auf vielfältige Weise versucht haben. Er macht bewusst, wie sehr die Welt, in der wir leben, von der Welt, die wir wahrnehmen, abhängt. Wie Fische im Wasser leben und sich dort bewegen, schreibt er weiter, hat sich für ihn das Element Luft ins Element Licht verwandelt: «Wir leben und bewegen uns im Licht.» Für John Berger, und vielleicht auch für uns, wird dies zu einer «Wiedergeburt des Sehens». Er lässt teilhaben an der Wiederentdeckung und am Glück des Sehens und beschreibt die Entfernung des Grauschleiers als «Entfernung einer besonderen Form des Vergessens».

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«Lichttropfen am frühen Morgen»

Ein Autor des Grossen und Gesellschaftlichen …

1926 wurde John Berger bei London geboren. Nach dem Kunststudium wurde er Maler und arbeitete als Lehrer. In den 1950er-Jahren engagierte er sich in der Friedensbewegung «Artists For Peace». Als er die Hälfte des Preisgeldes, das er für den Booker Prize erhalten hatte, der Black-Panther-Partei gab, löste dies einen Skandal aus, ebenso sein Boykottaufruf an die internationale Öffentlichkeit wegen der Besatzung Palästinas durch Israel. Darauf verliess er England und zog nach Savoyen in ein Bergdorf, wo er noch heute lebt.

Für Alain Tanner schrieb er die Drehbücher zu «La salamandre» (1971), «Le milieu du monde» (1974) und «Jonas qui aura 25 ans en l'an 2000» (1974), mit denen dieser eine neue Epoche des Schweizer Films einläutete. Weiter erschienen von ihm Romane, kunsthistorische und sozialkritische Essays und Erzählungen. Mit dem Fotografen Jean Mohr publizierte er zwei wichtige Bildbände. Mit «Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens» hat er seit 1981 Generationen von Menschen das Sehen gelehrt.

… und des Kleinen und Privaten

Mit dem kleinen Büchlein «Vom Wundes des Sehens», Originaltitel «Cataracte», lässt er uns die Schönheit und Grösse des Sehens wahrnehmen und erleben, zutiefst vielleicht auch exemplarisch für andere Gewinne und Verluste, die das Leben so mit sich bringt. «Das Licht existiert als kontinuierlicher, immerwährender Anfang.» Mit solchen Sätzen führt er zu einer Metaphysik des Lichtes: zum Licht, das Leben und alles Sichtbare erst möglich macht. «Mehr Licht, bitte», Goethes angebliches letztes Wort, kommt einem in den Sinn. Vielleicht auch der Satz aus der Genesis: «Es werde Licht, und es ward Licht.»

Alles, was Berger schreibt, ist in einem liebenden, menschenfreundlichen Ton gehalten. So auch die folgenden Sätze: «Das Licht legt dir die Hand auf die Schulter. Du drehst dich nicht um, denn seit langer, langer Zeit hast du dich an diese Berührung gewöhnt, sie ist dir vertraut. So ist es mit dem Licht. Es ist, was du als Allererstes sahst, und nie gabst du ihm einen Namen.» Vielleicht scheint hier etwas auf von einer tiefen Geborgenheit im Sein, im Gegensatz zur Geworfenheit, mit der andere das Leben zu deuten versuchen.

«Vom Wunder des Sehens» ist nicht nur für die Leser, die die Erfahrung einer Staroperation bereits teilen oder sich davor fürchten, dabei aber erkennen, dass diese altersbedingte Operation auf unerwartete Weise auch Erleuchtung bringen kann, sondern für alle, die mit Freude sehen, die beobachten, die betrachten, ins Auge fassen, in Augenschein nehmen und schliesslich wahrnehmen, was sich ihnen entgegen stellt.

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«Die vertraute Vielfalt der Welt ist wiedergefunden.»

John Berger: Vom Wunder des Sehens. Mit 36 Zeichnungen von Selçuk Demirel. Unionsverlag, Zürich 2014, 69 Seiten