Meinrad Schade: Krieg ohne Krieg

Vor, neben, nach dem Krieg: Seit über zehn Jahren arbeitet der Schweizer Fotograf Meinrad Schade an seinem Langzeitprojekt «Krieg ohne Krieg»: Heute präsentiert in einem Bildband und einer Ausstellung.

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Meinrad Schade ©: War & Peace Show, Beltring, Kent, England, 2009: Re-enactors in der amerikanischen Uniform aus dem Zweiten Weltkrieg. Jedes Jahr im Juli findet in der Grafschaft Kent die «War & Peace Show» statt. Es ist eine grosse Living History-Veranstaltung, an der sich das Nachspielen vor allem des Zweiten Weltkrieges besonderer Beliebtheit erfreut. Die Menschen, die ein solches Hobby pflegen, nennen sich Re-enactors und ihr angeblich grösstes Anliegen sei die Geschichte.

Meinrad Schade (1968 geboren) bereiste Regionen im heutigen Russland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie in Israel und Palästina, wo er gegenwärtig weiter arbeitet. In ausführlichen Reportagen befasst er sich mit ehemaligen, noch schwelenden oder vielleicht wieder ausbrechenden Konflikten. Anteil nehmend und trotzdem unbestechlich und präzise beobachtend zeigt er die Spuren des Krieges in Städten, Dörfern und der Natur, weist auf seelische und körperliche Schäden betroffener Menschen hin und beobachtet jene, die heil davon gekommen sind und stolz ihre früheren Siege feiern.

«Krieg ohne Krieg» heisst das Projekt, das heute in einem Bildband und einer Fotoausstellung an die Öffentlichkeit kommt. Schade ist kein konventioneller Kriegsberichtreporter, der die Medien mit Blut und Toten beliefert, sondern einer, der das Phänomen «Krieg» hinterfragt, so wie es Nadine Olonetzky in ihrem Essay im Buch nachempfindet: «Wann beginnt ein Krieg und wann hört er auf? Bis wohin sind seine Auswirkungen wie die Druckwellen eines fernen, aber katastrophalen Erdbebens spürbar? Und wie sind Vorbeben auszumachen, die untrüglichen Zeichen, dass die Spannung eskaliert, sich in Gewalt und Vertreibung entlädt?»

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Meinrad Schade ©: Herzlberg, Jerusalem, Israel, 2011: Während der Vorbereitungen für eine feierliche Zeremonie anlässlich des 65. Jahrestages der Staatsgründung Israels flicht eine Teilnehmerin ihrer Kollegin die Haare zu einem Zopf.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

«Meistens bin ich alleine und überzeugt davon, dass ich Bilder an Orten finden werde, wo „nichts" passiert. Die Nebenschauplätze sind mein Territorium», sinniert der Fotograf über seine langwierige Spurensuche an den Rändern der Konflikte. Damit kehrt er Konventionen um, denn die Grossen dieser Welt, die Politiker, Wirtschaftskapitäne und Medien, glauben an die Bedeutung dieser Hauptschauplätze. Schade dagegen zeigt mit seinen Fotos, dass das Davor, Daneben und Danach entscheidend sind, dass hier die Ursprünge der Kriege zu suchen sind.

Schade «zeigt Landschaften, die jeder Kraft und Anmut beraubt sind und denen es an jeder Leuchtkraft des Spektakels fehlt, die über die Darstellung von überwältigender Gewalt einen mystischen Sinn für Erlösung bekommen. Das Akute in seinen Fotografien wurde bereits durch das Chronische ersetzt, das Lebhafte und Bezwingende durch den Schmerz und die andauernde Leere der Abwesenheit. Das, was nach dem Krieg ist, ist hier eine Landschaft, die durch Diskontinuität und unerfüllte Versprechen gebrochen ist – die Erwartungen des Leben zerschlagen und verhöhnt durch „die schönen Ideen, für die man stirbt"», meint Fred Ritchin in seinem Text im Bildband.

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Meinrad Schade ©: Wolgograd (ehemals Stalingrad), Russische Föderation, 2009: Am 9. Mai, dem «Tag des Siegs», fotografieren sich die Besucher im «Saal des Kampfesruhms» zusammen mit der Ehrenwache der russischen Armee.

Das Objektiv erstellt die Diagnose

Der Fotograf entwirft beunruhigende Bilder eines labilen existenziellen Zustands zwischen Katastrophe und Normalität, zwischen Krieg und Frieden, wobei es ihm nicht um ein bestimmtes Land oder einen bestimmten Krieg geht, sondern den Krieg an sich, das Phänomen Krieg. Also das, was sich im Krieg zeigt, was erscheint, was wahrgenommen werden kann. «Ein Imperium lebt von Kriegen. Siege verlängern seine Existenz, Niederlagen nähern es seinem Zerfall an», schreibt Michail Schischkin in einem Essays und fährt fort: «Kriege sind also so etwas wie Transmissionsriemen der Entwicklung (...) Das Objektiv allein erstellt eine Diagnose.» Mit seinem Werkzeug stellt er, verschwiegen und verschlossen, seine Diagnose – die wir in Sprache zu übersetzen haben, um sie zu verstehen.

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Meinrad Schade ©: Jericho, Westjordanland, 2014: Studenten der Al-Istiqlal Universität beim frühmorgendlichen Training. Istiqlal bedeutet Unabhängigkeit und soll die Studenten auf die verschiedenen Berufe im Sicherheitsbereich eines unabhängigen Staates vorbereiten. Die Abgänger sind heute alle in der palästinensischen Autonomiebehörde angestellt.

Für oder gegen den Krieg?

Meinrad Schade fotografiert auch Orte, die von einem Massenpublikum frequentiert werden: Kriegs-Schau-Plätze, an denen, entweder mit offenen wirtschaftlichen Interessen oder unter dem Deckmantel der historischen Aufklärung, Kriege realitätsnah inszeniert werden: die Waffenmesse «Eurosa tory» in Paris zum Beispiel oder die «War & Peace Show» im englischen Beltring. Einerseits zeigt er mit diesen Bildern auf, dass es vor allem auch das Geld ist, das dafür sorgt, dass weltweit die Reihe der Kriege nicht abbricht. Andererseits zeigt er auf, dass in unserer Gesellschaft eine tief verwurzelte Faszination für Krieg und Gewalt existiert, die auch seine eindringlichen Bilder, dessen ist sich Meinrad Schade bewusst, nicht aus der Welt schaffen.

Der Ernst, mit dem Meinrad Schade seine Diagnose macht, übersteigt die üblichen Diskussionen über Kriegsfilme, die in die Kinos kommen. Das obligate Entweder Oder, ein Film, eine Fotografie verurteile den Krieg respektive ein Film, eine Fotografie verherrliche ihn, führt in eine Sackgasse, ist obsolet. Weshalb? Weil die Theorie der Medienrezeption überzeugend sagt, dass die Medienschaffenden nur die eine Hälfte der Botschaft machen, die Rezipienten die andere. Damit wird klar, dass die Befindlichkeit und die offenen oder versteckten Absichten der Betrachter entscheiden, wie Bilder, wie Filme, wie Fotografien, was Kriegsfotos aussagen, wie sie wirken.

So legen wir den Bildband weg, verlassen wir die Ausstellung, zurück bleibt die Frage des französisch-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Littell: «Seid ihr überhaupt sicher, dass der Krieg vorbei ist?»

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Meinrad Schade ©: Wolgograd (ehemals Stalingrad), Russische Föderation, 2009: Kriegsveteran vor einem Diorama im «Staatlichen Panorama-Museum Schlacht um Stalingrad». Die Blumen hat er aus Ehrerbietung für seinen Einsatz geschenkt bekommen.

Bildband, Fotoausstellung, Reportage

Parallel zur Ausstellung erschien im Verlag Scheidegger & Spiess, von Nadine Olonetzky herausgegeben, der grossartige und bewegende Bildband «Krieg ohne Krieg». Fotografien aus der ehemaligen Sowjetunion mit Texten von Nadine Olonetzky, Fred Ritchin, Michail Schischkin und Daniel Wechlin. Hardback, ca. 259 Seiten, 163 Illustrationen, vierfarbig. Preis im Shop der Ausstellung Fr. 50.00, im Buchhandel Fr. 54.00.

Die herausfordernde und wichtige Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur, die vom Co-Direktor Martin Gasser kuratiert wurde, dauert noch bis 17. Mai 2015. Auskünfte sind zu finden unter www.fotostiftung.ch oder 052 234 10 30.

Zu diesem Anlass ist weiter eine Sonderausgabe des Magazins «Reportagen» mit einer Palästina-Reportage von Christian Schmidt mit Fotografien von Meinrad Schade und Bildbetrachtungen von Daniele Muscionico erschienen.

Mehr zu Meinrad Schade unter www.meinradschade.ch