Kunst – ein anderer Zugang zur Sozialen Arbeit
«Wissenschaft schafft Wissen.» Das ist das allgemeine, auch in der Sozialen Arbeit vorrangige Paradigma. Doch es gibt noch ein anderes: «Kunst schafft Können». Dieses hingegen ist weniger bekannt, wird auch von Sozialtätigen nur selten genutzt. Wie die Wissenschaft Faktenwissen generiert, so erzeugt die Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken Handlungswissen. Das eine wie das andere braucht es! Drei Beispiele, wie aus der Kunst für die Soziale Arbeit ein Gewinn gezogen werden kann, seien hier exemplarisch vorgestellt: die bildende Kunst, die Fotografie, der Film. (Die regelmässig in «SozialAktuell» vorgestellten Filme, Kunst- und Fotoausstellungen dienen dem gleichen Zweck.)
Alberto Giacometti mit seinen Figuren, die die Leere aushalten
Bewegt man sich zwischen den hohen, stelenartigen Figuren Alberto Giacomettis und schaut zu ihnen hinauf oder geht ganz nahe an seine bloss handgrossen Figurinen heran, so begegnet man menschlichen Seins-Formen: dem Geworfen-Sein, dem Ausgesetzt-Sein, dem Einsam-Sein. Diese Werke behaupten sich gegen die Leere, bäumen sich auf gegen das Nichts. Solche Aussagen sind keine Hirngespinste versponnener Philosophen oder verschrobener Kunsttheoretiker; wir kennen sie aus den Beschreibungen konkreter Befindlichkeiten im Alltag des sozialarbeiterischen Tuns.
So wird die Auseinandersetzung mit Kunstwerken zum «Probehandeln», zur Vorbereitung auf ein Gespräch und zur Begegnung mit den Menschen unseres privaten und beruflichen Umfeldes. Ein aktives Verweilen und eine für neue Erfahrungen offene Auseinandersetzung angesichts der Werke von Giacometti beispielsweise kann so zu einer Art «Exerzitien des Mit-Seins» und der Mitmenschlichkeit werden, bei welcher im Glücksfall «die Wirklichkeit aufblitzt» (Sartre).
Robert Frank mit seinen Porträts, die im Alltag Ewiges aufzeigen
Exemplarisch für unzählige andere soll hier der Schweizer Fotograf Robert Frank dienen. Wenn seine Fotos momentan nicht in einer Ausstellung zu sehen sind, dann wenigstens in seinen Bildbänden. «Ich glaube, meine Sympathien gelten immer denjenigen Menschen, die schwächer sind, die fast sicher Verlierer sind. Es mag romantisch klingen, so zu fühlen – ausser ich würde an Gerechtigkeit glauben –, und das tue ich nicht.» Dieser Satz zeigt, wie nah Frank mit seiner Arbeit dem Beruf des Sozialarbeiters, der Sozialpädagogin, des Sozialbegleiters steht.
Wie er in seinem Schaffen konkret vorgeht, kann vielleicht helfen, seine eigene Soziale Arbeit besser zu leisten: «Ich schaue immer nach Draussen, um nach Innen schauen zu können, um etwas Wahres zu erzählen zu versuchen.» Haben wir denn nicht auch als Sozialtätige stets ein «Aussen» vor uns, das gleichzeitig ein «Innen» ist, ein «Innen», das sich «äussert» und nach «Aussen» tritt?
Jim Jarmusch’s Film, der erfolglos das verpasste Leben sucht
Da erhält ein alternder Mann, eben von seiner Freundin verlassen, einen rosaroten Brief ohne Absender, wahrscheinlich von einer ehemaligen Geliebten. Darin heisst es, er hätte einen Sohn, der ihn suche. Er macht sich, von einem Nachbarn gedrängt, auf den Weg in seine Vergangenheit. Bei der ersten Ex-Geliebten landet er ohne jede Zärtlichkeit im Bett. Mit der zweiten bleibt es beim Dreieckspiel mit dem Neuen. Die dritte hat als Tierkommunikationstrainerin keine Zeit für ihn. Bei der vierten wird er brutal zusammengeschlagen. Und die fünfte besucht er auf dem Friedhof. Einen Sohn findet er nicht.
Das Zurück zu seinen früheren Geliebten bleibt ergebnislos. «Leben kann man nur vorwärts, das Leben verstehen nur rückwärts», meint Kierkegaard. Doch nicht einmal das Verstehen gelingt ihm, noch weniger das Leben. Alles endet in der Leere des Ungelebten. Weshalb? Das fragen wir uns und dringen damit in die Psyche eines alternden Don Juan ein, was uns vielleicht hilft, uns selbst, die Nächsten, die Klienten besser verstehen und ihnen begegnen zu können.
Zahlen oder Erlebnisse?
Was sagt uns die Wissenschaft eigentlich über den Menschen? Sie liefern statistische Zahlen. Beispielsweise: So viele Prozente einer Gruppe lebt so, denkt so, fühlt so, reagieren so. Solche Zahlen sind wichtig, dass wir unsere Subjektivität nicht mit der Objektivität verwechseln. Sie dürfen jedoch nicht verabsolutiert werden, es braucht als Ergänzung das Paradigma der Kunst. Hier gilt, was Valéry sagt, dass etwas umso objektiver ist, je subjektiver es gezeigt wird. – Die Wissenschaft lässt uns verstehen, was im Ganzen abläuft; die Kunst sensibilisiert uns für das Einzelne, die Einzelne, den Einzelnen.