Louise Bourgeois: eine Jahrhundertgrösse
Louise Bourgeois gilt als eine der bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit.
Foto Jeremy Pollard
Den 100. Geburtstag von Louise Bourgeois (25.12.1911 – 31.5.2010) nimmt die Fondation Beyeler zum Anlass, unter dem Titel «À l’infini» mit Einzelwerken und Werkserien eine konzentrierte Auswahl ihres Schaffens zu zeigen. Einem Teil ihrer Werke werden Bilder von Paul Cézanne, Fernand Léger, Francis Bacon, Alberto Giacometti, Pablo Picasso und Barnett Newman, zu denen sie eine besondere Beziehung hatte, gegenübergestellt. Diese «Dialoge» mit den verwandten und doch gegensätzlichen Werken wirken durch ihren Perspektivenwechsel erhellend. (Ein Faltblatt hilft zum Einstieg in die Welt der Künstlerin.)
Habe ich, von der Baselstrasse kommend, den Park des Museums betreten und den Blick in die idyllische Landschaft mit weidenden Kühen schweifen lassen, so stehe ich unvermittelt einer riesengrossen, bronzenen Spinne gegenüber: einem Stück monumentaler Fauna inmitten der beruhigenden Flora des Parks und der einladenden Architektur des Renzo Piano. Die Spinne, 1999 entstanden, provoziert mit ihrer Grösse und mit ihrem Namen «Maman». Er führt auf eine Spur, die auch im Gesamtwerk gültig ist und zum Ausgangspunkt all ihrer Werke führt: ihre Autobiografie. Und dennoch ist ihr Schaffen nie privat, sondern stets allgemeingültig. Man tut gut daran, ihre Mutterbeziehung nicht (nur) trivial-psychologisch zu deuten, da die Spinnen ja auch in der Gesellschaft nicht nur negativ gedeutet werden wie etwa in der «Schwarzen Spinne» von Gotthelf, sondern auch positiv wie in Ghana und an der Elfenbeinküste, wo sie als Gottheiten verehrt werden. Die Mutter der Künstlerin war wohl (auch) besitzergreifend, umgarnend, doch nicht nur das, sie war, wie die Künstlerin meint, meine «beste Freundin, war besonnen, klug, geduldig, beruhigend, vernünftig, wählerisch, raffiniert, unentbehrlich, ordentlich und nützlich – wie eine „araignée“, französisch für „Spinne“.» Und weiter erklärt sie ihre Wurzeln: «Ich kam aus einer Familie von Reparateuren. Die Spinne ist ein Reparateur. Wenn man in das Spinnennetz ein Loch schlägt, wird sie nicht irre. Sie webt und repariert es.» Bei der Spinne/Maman geht es zudem, wie in ihrem ganzen Oeuvre, nie bloss um ihre Mutter und ihre Kindheit, sondern stets um die Mutter und die Kindheit, weshalb sie wohl auch uns nicht loslässt – wie eine Spinne.
«Maman» von Louise Bourgeois vor der Fondation Beyeler. © Louise Bourgeois Trust
Von Schmerz und Erniedrigung gezeichnet
«Mein Grundthema ist der Schmerz», erklärt sie sich einmal, weshalb es ihr wohl vor allem darum geht, den früheren Frustrationen und Verletzungen eine Form und eine Deutung zu geben. Was ihrer Seele, ihrem Körper und ihrem Geist widerfahren ist, erhält in ihrem Oeuvre eine verbindliche Form und öffnet sich für eine Deutung.
Die Journalistin Sibylle Mulot erzählt in der Mai/Juni-Nummer 2002 von «Emma» eine Episode aus dem Leben der Künstlerin, die mehr erklärt: «Zur Bildhauerin wurde sie am Familientisch, wenn ihr Vater, der Charmeur und Macho, aus einer Mandarinenschale einen Mädchenkörper schnitt, ihn hochhob und sagte: „Seht her, das ist Louise. Sie hat nichts! Alles, was sie zwischen den Beinen hat, sind ein paar dünne weiße Fäden!“ Daraufhin knetete Louise, während die anderen lachten, heimlich den Körper des Vaters aus Weissbrotkrumen und schnitt ihm anschließend mit dem Messer alle Glieder ab. „Meine erste skulpturale Lösung“, bemerkte sie später trocken.» Solches Leid und solche Verletzungen, die wohl vor allem auch bei Frauen Erlebtes und Gehörtes in Erinnerung rufen, bilden den Inhalt, den Gehalt vor allem ihrer Zellen-Installationen, einem Höhepunkt der Ausstellung. Zwei davon sind in der Ausstellung: «Celle XVII» aus dem Jahre 2000, mit einem in einer Glasvitrine eingeschlossenen menschlichen Körper aus Stoff und ohne Glieder, sowie «Passage dangereux» aus dem Jahre 1997 (im Untergeschoss), eine Aneinanderreihung von Gefängniszellen, in denen ihre Kindheit und die Kindheit anderer, ihre Adoleszenz und die Adoleszenz anderer eingesperrt sind. Sie machen deutlich, dass Bourgeois mit der «skulpturalen Lösung» ihr persönliches und das allgemein menschliche Leid meint. Die mit Spots angeleuchteten Zellen aus Eisengittern, gefüllt mit Gegenständen des täglichen Lebens, erzählen Lebens- und Leidengeschichten aus der Kindheit und Jugend, werden zu negativen Ikonen. Im «Keller des Unbewussten» sozusagen, ist angehäuft, wie Sigmund Freud meint, was weiter oben im Gebäude keinen Platz hat, in der Hauptsache die Laster des Menschen.
Man muss nahe herangehen, um sie zu sehen und zu hören… Doch auch hier ist nicht alles negativ; es gibt Gegenstände, die durchaus positiv zu verstehen sind, die Heimweh auslösen. Die Künstlerin zeigt das, was sie erleiden, aber auch, was sie erstarken liess. Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten der letzten fünfzig Jahre, für alle meine Themen, ist in meiner Kindheit zu suchen», bestätigt sie unser Vermuten. Die Werke von Louise Bourgeois handeln – um es mit Worten aus Nietzsches «Trunkenem Lied» aus dem «Zarathustra» zu versuchen – von der Tiefe der Welt, von der Tiefe des Wehs und des Herzeleids, aber auch von der Lust, die Ewigkeit will.
Louise Bourgeois, Passage dangereux. Foto Stefan Altenburger, © Louise Bourgeois Trust/ProLitteris, Zürich
Emotionen erfahren und erfahrbar machen
Einen weiteren Höhepunkt bildet (ebenfalls im Untergeschoss) der Zyklus «À l’infini» mit vierzehn Radierungen und Zeichnungen in Mischtechnik aus dem Jahre 2008, der bisher noch nie öffentlich gezeigt wurde. Diese Werke mit Schwarz und Grau, Hellrot wie Menstruationsblut und Orange wie die Farbe der Körper, sind Innenansichten des Menschen, lediglich entfernt an das Aussen erinnernd. Es geht um menschliche Beziehungen, körperliche Begegnungen und gleichzeitig um Ereignisse innerhalb des Körpers, «intravenös» könnte man sie beschreiben. Zusätzlich sind sie, in die äussere Welt projiziert, Zeichnungen des ewigen Weiterfliessens des menschlichen Lebens, gespeist von Emotionen und vom Unbewussten. «Das Leben besteht aus Erfahrungen und Emotionen. Die Objekte, die ich geschaffen habe, machen sie erfahrbar», sagte sie einmal. Wie der Werktitel andeutet, meint sie das Immer-Weiter, das Un-Aufhörliche, das Un-Endliche. Für sie erscheint auch die Geschichte als ein aus Erinnerungsfäden gesponnenes Gewebe – und schon sind wir wieder bei der Spinne, die ihre Fäden spinnt, repariert und immer wieder neu spinnt. Nicht nur hier, «in meinem ganzen Werk gibt es die Angst, im Stich gelassen und getrennt zu werden.» Die Serie «À l’infini» mischt gerade in diese Angst etwas Tröstliches: Es geht weiter! Das Leben ist ein Perpetuum mobile. Die Spiele von Bourgeois sind keine «Endspiele» wie die Stücke von Beckett. Es sind Weiter-Spiele. «Es geht weiter. Auch ohne mich.» Das sagt die grosse alte Frau der modernen Kunst gegen Ende ihres Lebens.
Louise Bourgeois, À l‘infini, The Museum of Modern Art, New York. © Louise Bourgeois Trust/ProLitteris, Zürich
Eine weitere erklärende Episode erzählt Sibylle Mulot im erwähnten Aufsatz: «Eine 60 Zentimeter hohe Plastik aus Latex taufte sie „Fillette“, kleines Mädchen – tja, rein theoretisch könnte dieses Ding entfernt an ein armes Waisenkind auf Knien erinnern, aber unübersehbar ist es doch ein Riesenphallus mit Hoden. Den klemmte die zarte Louise sich unter den Arm, als sie 1982 zum Fototermin bei Robert Mapplethorpe marschierte. Die Fotoserie mit der grinsenden Louise im zotteligen Mantel und dem „Fillette“ unter dem Arm wurde berühmt. Louise Bourgeois war damals 70.»
Zeit ihres Lebens litt die Künstlerin unter Schlaflosigkeit, vielleicht ein Ausdruck ihres über-aktiven Unterbewussten. Daraus entstanden im Lauf der Jahre «The Insomnia Drawings» (ebenfalls im Untergeschoss), die sie 1994/95 gesammelt und zu einem 222-teiligen Serienwerk vereinigt hatte. Sich meditierend in diese Zeichnungen, Notizen, Skizzen zu vertiefen, lohnt allein schon den Besuch der Ausstellung. Sie in Worte zu fassen, ist hingegen schwierig. Noch einmal finde ich bei Nietzsche Worte für diese Schlaflos-Zeichnungen: «Was spricht die tiefe Mitternacht? Ich schlief, aus tiefem Traum bin ich erwacht.» Wenn man vor diesen gekritzelten Sätzen und Zeichnungen sein eigenes Unbewusstes hochkommen lässt, kann man in unserem Tagleben in ihr Nachtleben eintauchen. Sinngemäss heisst es auf einem der Zettel, sie sehe, dass sie nichts sehe, was einen doch leicht an das Sokrates zugeschriebene «Ich weiss, dass ich nichts weiss» erinnert.
Infos
Kuratiert wurde die Ausstellung, noch gemeinsam mit der Künstlerin, von Ulf Küster in Kooperation mit dem Louise Bourgeois Studio, New York.
Zur Ausstellung ist erschienen: Ulf Küster, Louise Bourgeois, Reihe Kunst zum Lesen, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 144 S., 21 Abb., davon 15 farbig, Fr, 24.90.
Zusätzliche Veranstaltungen und weitere Informationen sind unter www.fondationbeyeler.ch zu finden.