Pipilotti Rist

«Blutgetriebene Kameras und quellende Räume» heisst die aktuelle Ausstellung von Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen.

Mit satten, bunten Bildwelten und wild wuchernden Installationen hat die Schweizer Video-Künstlerin Pipilotti Rist (geborene Elisabeth Charlotte Rist) die Welt der Kunst erobert. Geboren 1962 in Grabs, gilt sie als wegweisende Figur der zeitgenössischen Videokunst. 1994 fand im Kunstmuseum St. Gallen ihre erste grosse Ausstellung statt, weitere folgten weltweit, ebenso Einladungen an die Biennale von Venedig und São Paulo.

Seit jeher beschäftigt sich die Künstlerin mit der visuellen und auditiven Beschreibung von Gefühlen, die, «wenn du berührt wirst oder wenn du jemanden berührst», wunderbare und geheimnisvolle Bilder und Töne ergeben. Die Verfremdungen, Assoziationen, witzigen Montagen, traumartigen Sequenzen und unerwarteten Einstellungen steigern sich zu einem alles umfassenden Bilderstrom, in den die Besucherinnen und Besucher eintauchen können zur genussvollen und erbaulichen, zur anregenden und herausfordernden Unterhaltung – im ursprünglichen Sinn des Wortes: zum Unterhalt, zur Nahrung für die Seele.

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I’m Not The Girl Who Misses Much, 1986

Hirn und Magen, Kopf und Unterleib

Die von Konrad Bitterli kuratierte Retrospektive «Blutbetriebene Kameras und quellende Räume», in Kooperation mit der Londoner Hayward Gallery und der Kunsthalle Mannheim entstanden, ist seit Jahren Pipilotti Rists erste umfassende Einzelpräsentation in der Schweiz, eine vorübergehende Heimkehr der Künstlerin.

Die malerische Behandlung und die raumgreifende Inszenierung ihrer Videos sind ebenso charakteristisch für ihre unverwechselbare künstlerische Sprache wie ihre spektakulären Kamerafahrten und die sich überschlagenden und ineinanderfliessenden Bildern, die zusammen mit technischen Verfremdungen, Bildstörungen, assoziativen Montagen und traumartigen Sequenzen in einen alles umfassenden leuchtend farbigen Bilderstrom münden. In ihre Bilderreisen umfasst die Künstlerin den menschlichen, vor allem den weiblichen Körper, vom Hirn zum Magen und vom Kopf bis zum Unterleib. Raffiniert befragt sie dabei den vermeintlichen Wirklichkeitsgehalt des Mediums Video, die wenig reflektierten Seh- und Denkgewohnheiten und schafft ihre eigenen sinnlichen Bildräume, in die man eintauchen und in denen man einzigartige Glücksgefühle erleben kann. «Rist verführt ihr Publikum, den eigenen Gedanken zu folgen, die inneren Bilder in Fluss zu bringen und die Perspektive auf die Welt zu verschieben und neue Facetten der Wahrnehmung zu entdecken. «Wie einen Freund nimmt sie uns bei der Hand und schärft unsere Aufmerksamkeit», schreibt Stephanie Rosenthal.

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Selbstlos im Lavabad, 1994

«Augapfelmassage»

Die Ausstellung führt ausgewählte Einkanalvideoarbeiten aus den Anfangsjahren ihrer bildkünstlerischen Recherchen zusammen mit bedeutenden frühen Installationen wie «Eine Spitze in den Westen – ein Blick in den Osten», in der die Besucher gewissermassen eins werden mit dem raffiniert gestalteten Projektionsobjekt, «Selbstlos im Lavabad» oder mit der hierzulande erstmals ausgestellten raumgreifenden Installation «Administrating Eternity» und dem speziell für St. Gallen geschaffenen Farblabor. Damit gewährt die Ausstellung keine vollständige, jedoch eine gute exemplarische Übersicht über ihr Schaffen, in dem sie ihre Forschungen auf dem Gebiet der «Augapfelmassage», Titel des Katalogs, für uns entscheidend weitertreibt. Mit ihrer Werkauswahl verwandelt Pipilotti Rist das Kunstmuseum innen wie aussen in eine ebenso präzis gesetzte wie wunderbar choreografierte Landschaft für sinnliche Körper- und Raumerfahrungen.

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A la belle étoile, 2007

Sätze von Pipilotti Rist

«Meine Augen (türkis) sind zwei blutgetriebene Kameras. Je offener und knallharter wir den andern Menschen in die Augen schauen, desto brillanter werden die Bilder.»

«Meine Bilder erzählen von der unzivilisierten Schönheit, der Hingabe an das Leben, sie sollen Energien verleihen.»

«Ich finde Schönheit nie harmlos. Schönheit ist ja das, was wir selber konstruieren. Physiologisch brauchen wir Dinge im Leben, die wir als schön empfinden, damit sich unser Prozessor erholen kann. Sie brauchen wir, sonst drehen wir durch.»

«Video ist die Synthese von Musik, Sprache, Malerei, Bewegung, ‚miesen-fiesen’ Bildern, Zeit, Sexualität, Erleuchtung, Hektik und Technik. Das ist das Glück des Fernsehschauenden und der Videokünstler.»

«Ich würde gerne unsere Schädel durchbohren und unsere Gehirne zusammenhängen.»

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Urwald aus Gefühlen und Gedanken

Eine Spitze in den Westen – ein Blick in den Osten, 1992 – 1999

Rist schafft weltweit respektierte Kunstwerke; sie versteht es aber auch, verständlich und klug über Kunst zu sprechen und zu schreiben, und wagt es, sich für politische Probleme einzusetzen. Ihre Welt umfasst den Kopf und den Bauch, das Denken und Fühlen, die Hirngespinste und den Unterleibsaktivitäten, der Sexualität und der Ausscheidungen, auch des Menstruationsblutes. Ihren Gedanken und Träumen nachzugehen, lohnt sich. Etwas bleibt immer hängen, nehmen wir mit.

Für mich ist sie in etwa angesiedelt zwischen dem hochgelobten und kommerziell gepushten Jeff Koons, der gegenwärtig in der Fondation Beyeler gezeigt wird, und den Chinesen Ai Weiwei, über den am 13. September ein Dokumentarfilm in die Kinos kommt. – Ein vergleichender Kommentar zu den beiden folgt im Seniorweb anfangs September.

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Administrating Eternity, 2011

Katalog, Veranstaltungen und weitere Informationen

Ausstellungskatalog: Augapfelmassage mit Texten von Konrad Bitterli, Elisabeth Bronfen, Chrissie Isles, Stefanie Müller und Stephanie Rosenthal

Tour du Patron mit Apéro: Mittwoch 4. Juli, 18:30

Kinder Kunst Klub: Mittwoch, 12. September, 14:00 – 16:00, Mittwoch, 7. November, 14:00 – 16:00

Nachtschicht #6: Freitag, 23. November, ab 20:00

Bis 25. November 2012

Weitere Informationen und Einführung in die Ausstellung (nach unten scrollen)