René Magritte – Anleitung zum Andersdenken

Im Zusammenhang mit Kunst spricht man oft von «Seh-Schule», im Umfeld der Philosophie von «Denk-Schule». Nun gibt es aber Persönlichkeiten, bei denen beides zutrifft. Der Belgier René Magritte (1898 – 1967) ist ein solcher «Maler-Philosoph». Noch bis Ende November widmet ihm die Fondation Beyeler eine grosse Ausstellung. – Nachfolgend soll anhand von vier seiner Bilder versucht werden, für die Sozialarbeit, Sozialpädagogik oder Sozialbegleitung Impulse für ein anderes Sehen und Handeln zu generieren.«Die berühmte Pfeife… Man hat sie mir zur Genüge vorgehalten! Und trotzdem… können Sie sie stopfen, meine Pfeife? Nein, nicht wahr, sie ist nur eine Darstellung. Hätte ich also unter mein Bild ‚Dies ist eine Pfeife’ geschrieben, so hätte ich gelogen», meint der Künstler zu seinem Werk «Der Verrat der Bilder». Die Diskrepanz zwischen dem vordergründigen Bildinhalt «Pfeife» und dem beigefügten Titel «Verrat der Bilder» ist typisch für sein Schaffen. All seine Bilder haben Titel, die nicht das Sichtbare beschreiben, sondern zu einem andern Sehen, Denken und Handeln provozieren. Zum Beispiel ein Gipskopf im Bild, «Das Genie» als Titel; ein Akt im Bild, «Die symmetrische List» als Titel; ein Mann als Vergewaltiger im Bild, «Die gigantischen Tage» als Titel usw., usf.

Man könnte meinen, die Beschriftungen seien verwechselt. Doch gerade dieses Verkehrte dürfte eine erste Botschaft sein. Vor den Bildern fällt uns ein: So habe ich die Alltagsrealität noch nie wahrgenommen. Zu Überlegungen über Sein und Schein, Form und Inhalt werden wir eingeladen, wie wir sie auch aus der Sozialen Arbeit kennen: Was ist in einer Familienkonstellation Fact, was Begriff? Ist ein Mensch wirklich so, wie wir ihn erleben, oder bezeichnet man sein Verhalten nur so? Ist das, was wir wahrnehmen, Theorie oder Realität? 

Mit Worten versuchen wir uns – auch im Zeitalter der Bildmanipulation! – zu verständigen. Doch wer definiert diese? Worte stehen für Dinge der realen Welt, versuchsweise auch Dinge der Traumwelt. In den Träumen sind sie weit weg von der Objektivität, tauchen ab in die Subjektivität. Die Trauminhalte sind mit den üblichen Kommunikationsmitteln nur schwer zu vermitteln. Doch muss wirklich alles kommuniziert werden? Hatte nicht schon Wittgenstein dabei Einhalt geboten mit: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen».

 

Wenn wir dennoch kommunizieren wollen, bedeutet «umzusteigen». In der Mathematik spricht man von «Rechnen in andern Systemen». Vielleicht sind wir uns zu wenig bewusst, dass wir heute in vielen Systemen sehen, sprechen, denken und handeln können und müssen. Diesen Pluralismus begründeten Einstein mit seiner Relativitäts-, Born mit seiner Unschärfetheorie und Nietzsche mit seinem «Gott ist tot». Und – neben Magritte, der mit Bildern und Worten seine ästhetischen Kapriolen schlägt – spielt Peter Bichsel diese existentielle Verunsicherung mit den Mitteln der Sprache in «Ein Tisch ist ein Tisch» durch. Magritte lehnt Interpretationen ab, empfiehlt dafür Assoziationen. Für ihn geht es darum, «das Sichtbare dieser Welt so miteinander zu verbinden, dass das Mysterium des Sichtbaren und des Unsichtbaren beschworen wird».

Bei Bildern spricht man von Vorder-, Mittel- und Hintergrund, die normalerweise zusammen erst ein Ganzes bilden; in der Sozialen Arbeit gibt es die verschiedenen Ebenen eines Geschehens. Oft erkennt man nur die eine, die andern nimmt man nicht wahr: Unsere Wahr-Nehmung ist eben beschränkt. «Der Mann mit der Melone» hat auch zwei Ebenen, einen Vorder- und einen Mittelgrund. Witzig und provokativ zugleich zeigt Magritte, dass zwei Ebenen auch etwas völlig Anderes, nicht Zusammenpassendes darstellen und bedeuten können. Was? Das herauszufinden ist unsere Aufgabe, ist die Faszination des Ausstellugsbesuches.  

Dieses Andere zu entdecken, stellt uns immer wieder der Alltag zur Aufgabe. Es können beispielsweise zwei Ebenen logisch überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Diese in ihrer Un-Logik zusammen zu bringen, kann unerwartet eine neue Logik ergeben. Misstrauen der alltäglichen Wahrnehmung gegenüber, Zweifel an der Selbstverständlichkeit des Faktischen gegenüber wird hier propagiert. Diese Bilder enthalten Gefühle der Fremdartigkeit gegen Konvention und Konformismus. Das Andersartige, Fremde und oft auch Feindliche begegnet uns auch in der eigenen Arbeit. Magritte bietet uns Ermunterung und Lesehilfe an.

 

Mit dem «halb vollen» und dem «halb leeren» Glas haben wir alle so unsere Erfahrungen gemacht. Sie besagen, dass es darauf ankommt, von welchem Standpunkt aus man etwas wahrnimmt. «Was in dem Bild dargestellt ist, das sind … eine nächtliche Landschaft und ein Himmel, wie wir ihn am helllichten Tage sehen. Die Landschaft evoziert die Nacht, und der Himmel evoziert den Tag. Diese Evokation der Nacht und des Tages scheint mir mit der Macht begabt, uns zu überraschen und zu entzücken. Ich nenne diese Macht Poesie» (Magritte). Das Switchen zwischen zwei Realitäten empfiehlt uns als Antwort das «Sowohl als auch» auf das obligate «Entweder oder?» der Frage.

Im Alltag der Sozialen Arbeit stossen wir oft an Grenzen, wo es «linear» nicht mehr weiter geht, wo weder Logik noch Psychologik helfen. Antipsychiater wie Laing und Cooper haben dies in den Achtziger-Jahren thematisiert. Magritte bereits fünfzig Jahre früher! Und wenn es stimmt, was das französische Sprichwort «Mal vue, mal dit» meint, und was ich mit «mal fait» ergänzen möchte, dann ist es wichtig, dass wir uns in diesem anderen Sehen, Sprechen und Handeln üben. Dass wir zweifeln an der Objektivität der Wissenschaft und am Selbstverständnis des gesunden Menschenverstandes, dass wir uns auflehnen gegen die allumfassende Normierung, dass wir uns des eigenen Freiheitspotentials bewusst werden. Vielleicht lernen wir im Betrachten der Werke von René Magritte, die Probleme dieser Welt neu zu lösen: einer Welt, die doch alles andere als logisch, vernünftig und sinnvoll ist.