Sing Feng

Worte führen hinter Worte, Bilder hinter Bilder: Manche Reisen führen nicht in äussere Weiten, sondern ins Innere. So die Geschichte «Sing Feng» von Hans Peter Scheier, die er selbst mit Fotografien begleitet.

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In unserer touristischen Zeit mag es überraschen, wenn ein Autor zu einer Reise nach innen einlädt, zu einer nachhaltigen zudem. Weiter überrascht es, wenn der Autor nicht nur mit Worten, sondern auch mit verinnerlichenden Fotografien die Worte nachempfindet, wo unsere Welt von beliebigen Bildern überschwemmt wird.

Der Autor und Fotograf Hans Peter Scheier ist vor allem als Filmemacher bekannt, er drehte über zwanzig Dokumentarfilme, hervorgehoben seien «Schwestern», vier Filme über das Aufwachsen zweier Mädchen, und «Die Freiheit des Menschen» über den Pädagogen Marcel Müller-Wieland, der in Monaco 2012 mit dem «Humanitarian Film Award» ausgezeichnet wurde.

Weiter betätigt er sich literarisch. Die Erzählung «Wang und seine Kreise» wurde bereits über 1800-mal verkauft. 2006 erschien der Roman «ein Feuer nachts». 17 Jahre arbeitete er auch als Theaterpädagoge und Bühnen-Regisseur.

In «Sing Feng» erzählt er das, was sein fiktiver 81-jähriger Grossvater erlebt oder erträumt und in seinen letzten Lebenstagen niedergeschrieben hat.

Ein Männlein steht im Walde …

Bei einer Wanderung mit der Kamera durch den Wald begegnet der Grossvater einem seltsamen leuchtenden Wesen, das sich als Waldgeist Sing Feng vorstellt und ihm ins Altersheim folgt, um seine Fotografien kennenzulernen.

Er erzählt, er sei früher ein chinesischer Kämpfer gewesen und habe Menschen getötet. Nun kümmere er sich um die kleinen Tiere am Wegrand.

Die beiden freunden sich an, und Sing Feng erbittet in den folgenden Tagen mehrmals die Hilfe des alten Mannes für solch kleine Tiere, die verletzt worden sind.

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In den Sümpfen des Blutes und der Tränen, die der Grossvater versteckt im Gefieder des Lichtvogels überquert.

Auf dem Weg in die Stille

Einmal, nachts, weckt Sing Feng den Grossvater und nimmt ihn mit auf eine Reise in eine seltsam fremde, faszinierende Welt. Ziel ist der geheimnisvolle Stein der Stille, der für Menschen normalerweise nicht erreichbar ist. Sie begegnen nie gesehenen Wesen, die den Grossvater bedrohen oder ihm Rätsel aufgeben, die er lösen soll, obwohl er sie kaum versteht.

Schliesslich gelangen sie allen Gefahren zum Trotz zu dem leuchtenden Stein tief unten in einer Felsenhöhle. Was der alte Mann dort erlebt, verwandelt ihn vollkommen …

Als er am nächsten Morgen erwacht, ist er wieder im Altersheim. Und Sing Feng bleibt verschwunden: «Ich frage mich, wo Sing Feng wohl sein mag. Hat er seine Schuld abgetragen? Lebt er in einer andern Welt? Werde ich ihn je wiedersehen? Wer hilft jetzt den kleinen Tieren im Wald? Ich denke oft an Sing Feng und unsere geheimnisvolle Reise. Sing Feng ist mein Freund geworden. Und Freunde vergisst man nicht so leicht – genauso wenig wie Enkel …»

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Das Land Ur, in dem der Stein der Stille verborgen liegt.

Mit Worten und Bildern hinter Worte und Bilder

«Sing Feng» führt nach innen, in die Stille. Vorerst mit Worten. Doch, und das scheint mir aussergewöhnlich an diesem Buch, auch mit Fotos, mit denen der Enkel die Worte des Grossvaters begleitet, interpretiert, ins Bild übersetzt. Es sind nicht, wie man es heute erwartet, computergenerierte Bilder, sondern analoge Fotos, die mit viel zeitlichem und kreativem Aufwand mit den traditionellen Mitteln der Objektivwahl, der Schärfe, der Entfernung, der Standpunktwahl, der Lichtführung verfremdet sind – bis sie nicht mehr das Äussere abbilden, sondern in die Tiefe führen und eine geheimnisvolle, überraschende Innenwelt zeigen.

Hans Peter Scheier: Sing Feng. Syngeneia Verlag, Schaffhausen 2014, 84 Seiten, mit über 60 farbigen Fotos. Bestellung über h.p.scheier@bluewin.ch oder Tel. 052 624 33 57.