Thomas Struth: grossartige Fotos
Erste europäische Übersichtsausstellung im Kunsthaus Zürich
Spätestens seit dem Erfolg seiner «Museumsbilder» Anfang der neunziger Jahre zählt Thomas Struth (*1954) neben Andreas Gursky und Jeff Wall zu den weltweit wichtigsten und einflussreichsten Fotokünstlern. Neben Städtebildern und den Museumsbildern umfasst das fotografische Werk Struths die klassischen Gattungen Porträt sowie Architekturaufnahmen und Landschaften.
Struths in grossen Formaten und mit langem Atem in thematischen Serien entwickelte Arbeiten bewegen sich zwischen Dokument und Interpretation, zwischen sozialer Studie und psychologischer Deutung. Die nachdenkliche Behutsamkeit, die seine Methode auszeichnet, verbindet sein Werk nicht nur mit der Geschichte der klassischen Fotografie, sondern ebenso mit der zeitgenössischen Kunst. Nachdem 2002 eine Retrospektive durch die wichtigsten Museen der USA reiste, ist das Kunsthaus Zürich nun die erste Station von Struths erster grossen europäischen Übersichtsausstellung, die anschliessend in Düsseldorf, London und Porto gezeigt wird. Sie bietet mit rund 90 Werken einen umfassenden Überblick in sieben Themengruppen über Struths Schaffen der letzten drei Jahrzehnte. Ausserdem wird in Zürich erstmals eine Gruppe neuer Werke vorgestellt.
«Strassen» – als Orte des Unbewussten
Crosby Street, New York, 1978, 66 x 84 cm
Eine Werkserie, die sich über Struths ganzes Schaffen erstreckt und die er selbst als nicht abgeschlossen betrachtet, sind seine Strassenbilder. Im Februar 1976 präsentierte er erstmals 49 Fotografien von Düsseldorfer Strassen. Diese entstanden an den Wochenenden im gesamten Stadtgebiet, wobei er die Kamera auf einem Stativ mitten auf die Strasse stellte. Die Fotografien sollten, was ihm wichtig war, ganz normale Strassen in einer gesichtslosen, wieder aufgebauten deutschen Grossstadt dokumentieren, nicht das Ergebnis einer persönlichen Auswahl. Auch die Entscheidung, jede Fotografie um eine Zentralperspektive zu organisieren, hatte damit zu tun, dass er sich nicht auf einen bestimmten Stil oder eine bestimmte Komposition festlegen wollte: «Wenn Sie die Komposition verändern, appellieren Sie an die Leute, sich den Unterschied in der Komposition jedes Mal neu zu vergegenwärtigen. Wenn Sie ein eher wissenschaftliches Raster haben, eine eher komparative Struktur, dann lässt sich auch die visuelle Struktur klarer begreifen.»
«Familien» – als psychologisches Übungsfeld
The Hirose Family, Hiroshima, 1987, 74 x 92 cm
Bei den Familienporträts entdeckte Struth bald Parallelen zu seinem Interesse an Stadträumen, geleitet von der Frage, wie hinter dem Selbstverständlichen, Typischen und Manifesten Unbekanntes und Unbewusstes zum Ausdruck kommt. Der Psychoanalytiker Ingo Hartmann motivierte ihn zu diesem Unternehmen. Die Initiative geht jeweils vom Künstler aus, zusammen mit dem Fotografen entscheidet die Familie über Aufnahmeort und Bildausschnitt, Aufstellung und Posen legen die Familienmitglieder selbst fest. Sie werden gebeten, direkt in die Kamera zu blicken. «Die Frage der Familie wurde dadurch ausgelöst, dass ich versuchte, mich selbst zu analysieren und zu verstehen, meine eigene Familie, den Platz der Familie innerhalb der westlichen Kultur, dass ich darüber nachdachte, warum wir sind, wer wir sind. (…) In dem Deutschland, in dem ich aufwuchs, war die Familie ein heikles Thema. Die Frage, was die Eltern und Grosseltern während des Faschismus gemacht hatten, hatte man immer im Hinterkopf.»
«Museen» – die Kunst vom Sockel herunter geholt
Aus verschiedenen Erfahrungen heraus entwickelte Struth Anfang der 1990er Jahre die Konzeption zu einer neuen Serie grossformatiger Farbaufnahmen, den sogenannten «Museum Photographs». Aufenthalte in Neapel und Rom, die Nähe zu einer Kultur, in der Malerei und Religion aufs Engste miteinander verbunden sind, regten ihn an, über die unterschiedliche Funktion der Kunst in einer säkularen Welt nachzudenken. Er fragte sich, wie historische Gemälde in Museen heute erlebt werden. Als er 1989 begann, Besucher in Museen zu fotografieren, hatte er eine präzise Vorstellung, wo er arbeiten wollte: in Paris, in Wien, in London, Amsterdam und Chicago. Mitte der 1990er Jahre fotografierte er Museumsbesucher vor dem Pergamonaltar in Berlin. Später besuchte er Ausstellungen einzelner Werkes. Er war von der unorthodoxen Präsentation spontan beeindruckt. Schliesslich arbeitete der Fotograf 2005 während einiger Zeit im Prado und schuf eine Reihe von Werken, die er als die Vollendung seiner Arbeit in Museen betrachtet.
«Betrachter» – und wie sie betrachtet werden
Noch während seiner Arbeit an den Museumsfotografien hatte Struth über die Möglichkeit nachgedacht, den Blickwinkel um 180 Grad zu drehen, Menschen aus der Perspektive eines Kunstwerks zu fotografieren, während sie es betrachten. Eine Einladung der Galleria dell’Accademia in Florenz an eine Ausstellung zu Ehren des 500. Geburtstags von Michelangelos David bot ihm Gelegenheit, das Projekt erstmals umzusetzen. Der Künstler fuhr 2005 mit einer zweiten Reihe von Werken fort, die aus Nahaufnahmen von Betrachtern eines einzelnen Werkes in der St. Petersburger Eremitage besteht. Um die Fotos aufzunehmen, stationierte er seine Kamera neben dem jeweils vom Publikum betrachteten Werk mit Blick in die Menge. Wiederum werden die Betrachter selbst zum Fokus des Werks, während der Fokus ihrer Aufmerksamkeit unsichtbar bleibt.
«Andachtsstätten» – alter und neuer Religionen
Thomas Struth, El Capitan, Yosemite National Park, 1999, 176,5 x 223 cm
Zwischen 1995 und 2003 schuf der Künstler eine Reihe von Werken an Orten, die Gruppen von Menschen zeigen, die sinnbildlichen Stätten, sei es als Touristen oder als Gläubige besuchen. In Struths Augen bieten solche Orte «eine monumentale, emotionale Bündelung überwältigender Erfahrung». Im Jahre 1995 komponierte der Künstler in der Kirche San Zaccaria in Venedig eine Aufnahmen rund um die zentralen Figuren der Madonna mit Kind von Bellini; dabei fing er die Besucher der Kirche ein, wie sie dem Werk auf ihre verschiedene Arten begegnen. 1998 schuf er weitere Bilder in sakralen oder profanen Andachtsstätten, darunter im Mailänder Dom und in der Monreale-Kathedrale in Palermo, aber auch am Times Square oder im amerikanischen Yosemite Nationalpark.
«Paradiese» – überall auf der Welt
Mitte der 1990er Jahre begann Struth, mögliche Motive in Urwäldern und Dschungeln weltweit zu suchen. Die ersten acht «Paradiesbilder» entstanden 1998 im tropischen Regenwald in Australien. Alsdann schuf er mehrere Werke in China, Japan und ein Jahr danach in den Wäldern Bayerns. Der Künstler betrachtet die Paradiesbilder als seine «intuitivste» Werkgruppe, die in erster Linie durch einen malerischen Ansatz entstand und durch seine Auseinandersetzung mit Tai Qi geprägt sei, meint er. «Neue Bilder aus dem Paradies» war der Titel, den er den Werken gab, als sie erstmals 1999 ausgestellt wurden. Er wollte einen Titel wählen, der mitteilt, dass es sich bei den Bildern in erster Linie weder um Botanik noch um ein Klagelied über das verlorene Paradies handle. Er interessierte sich eher für die Arten von Betrachtung, Kontemplation oder Erfahrung, welche die Werke, die er gern in Gruppen präsentiert, hervorrufen konnten.
«Neue Arbeiten» – immer neu auf der Suche
Nach Vollendung der Museumsfotografien mit der 2007 im Museo del Prado geschaffenen Werkserie begann der Fotokünstler sich an eine neue Werkgruppe heranzutasten. Sein Interesse gilt jetzt den komplexen visuellen Strukturen, welche komplexe technische Anlagen produzieren. Diese jüngsten Werke dürfen als Weiterführung von Struths Interesse an einer «Geschichte des menschlichen Ehrgeizes» betrachtet werden, die in den kollektiven Leistungen einer Kultur sichtbar gemacht wird, sei es in der Form einer mittelalterlichen Kathedrale, der Struktur einer Stadt oder der Konstruktion eines Raumschiffs. Die Bilder der Sanierung der Raumfähre Endeavour zählen zu den grössten, die Struth bislang geschaffen hat.
Einladung zum Gespräch
Wandert man durch die Ausstellung – vielleicht mit dem Audio Guide in der Hand –, wird dabei still und öffnet sich, dann sieht und hört man in die Fotografien hinein, dann beginnen sie nämlich zu sprechen – und wir antworten: auf die gezeigten Situationen und Wirklichkeiten, denen wir begegnen, und auf die Geschichten, die in den Bildern verborgen sind. Es beginnt das, was eigentlich immer beim Kunst-Konsum geschieht: ein Dialog, bei welchem das Kunstwerk spricht und wir antworten. Vom Werk kommt das Wort, wir geben die Ant-Wort. Und es gilt, wie es Anette Kruszynski im Katalog postuliert, «der Wirklichkeit eine Form (zu) geben.»