Tod eines Handlungsreisenden

Ein Familien-Welttheater

 

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Mit Arthur Millers «Tod eines Handlungsreisenden» eröffnet der Schiffbau Zürich seine Saison 2010/11. Die in jeder Beziehung grossartige Inszenierung erinnerte mich spontan an Schillers Aufsatz «Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet». Doch weder Millers Text noch die Inszenierung verstehen «Moral» als Sammlung von Thesen, Geboten und Verboten, sondern als ästhetisches Erlebnis (aísthesis): als Wahrnehmung, als das, was wir für wahr nehmen, als Bilder des Lebens.

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Willy und Linda in ihrem stets vermeintlichen Aufstieg

Dass diese Bilder des Lebens betroffen machen, ist das Verdienst der durchdachten Regie von Stefan Pucher und seines Teams: Stéphane Laimé verantwortlich für eine die ganze Hallenbreite mit Leben füllende Bühne; Chrisopher Uhe für eine Musik, die mit dramatischen Akzente vertieft; vor allem Sebastian Pircher für die Videos, welche die 50er Jahre wieder aufleben lassen; Katja Hagedorn für die Lichtgestaltung, der Miller gerade in diesem Stück grosse Bedeutung beimisst. Temporeich, über mehr als zwei Stunden mitreissend, dann wieder zum Besinnen verlangsamend spielen alle Darstellerinnen und Darsteller: Robert Hunger-Bühler als Willy Loman, Friederike Wagner als Linda Loman, Sean McDonagh als Sohn Biff, Jan Bluthardt als Sohn Happy, Jonas Gygax als Bernard, Michaela Steiger als die Frau, Siggi Schwientek als Charley, Markus Scheumann als Ben, Julia Kreusch als Miss Howard sowie Larissa Eichin, Jasmin Friedrich und Olivier Tobler.

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Frau und Söhne als Willys «glückliche» Welt

Der Autor, ein Nachfahre des New Deal

Arthur Miller wurde am 17. Oktober 1915 in New York als Sohn eines polnisch jüdischen Einwanderers und wohlhabenden Textilfabrikanten geboren, der jedoch während der Depression der Dreissiger Jahre sein gesamtes Vermögen verlor. Diese persönliche Erlebnisse mögen ihn auch zur Geschichte des «Handlungsreisenden» bewogen haben. Nach der High School studierte er Journalismus. Mit Stücken wie «Alle meine zwei Söhne» (1947), «Hexenjagd» (1953), «Nach dem Sündenfall», «Zwischenfall in Vichy» (beide 1964) und «Tod eines Handlungsreisenden» (1949), für das er den Pulitzer-Preis erhielt, feierte er auf den grossen Bühnen seine Erfolge. 1956 heiratete er die Schauspielerin und Sängerin Marilyn Monroe, von der er sich 1961 wieder scheiden liess. Er verstarb am 10. Februar 2005 nach langem Krebsleiden an Herzversagen in Connecticut.

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Mehr verdienen, mehr konsumieren, mehr haben

Eine Geschichte, die in den Tod führt

Das Theaterstück erzählt die Tragödie von Menschen in einer Welt, in der die Träume der Werbung und die Maximen des finanziellen Erfolgs den Menschen aufs Stärkste und Groteskeste durchdringen. Willy Loman war ist Leben lang als Handlungsvertreter unterwegs, bis ihn im Alter die Kräfte verlassen. Erschöpft muss er erleben, wie er den Anforderungen seiner Umwelt nicht mehr genügt. Im Geschäft zieht der Konkurrenzkampf an, immer mehr wird auf Leistung und Effizienz gesetzt. Das Haus, das die Familie bewohnt, soll abbezahlt und der Lebensstandard aufrechterhalten werden. Immer mehr projiziert Willy die Erwartungen, die er selbst nicht erfüllt, auf seine Söhne Ben und Happy, die diesen übersteigerten Vorstellungen mehr schlecht als recht nachjagen und am «amerikanischen Traum» vom schnellen Erfolg scheitern. Als Willy schliesslich gekündigt wird, ist das private wie das berufliche Scheitern perfekt, der Selbstmord, als Autounfall getarnt, um die Versicherungsprämie für die Familie zu kassieren, bleibt ihm als letzter Ausweg.

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Hausfrau Linda: liebreizend, fürsorglich und schweigend

Karriere als einziger Lebenssinn

Willy lebt nicht, sondern wird vom «American Dream» gelebt. Bis zur Erschöpfung kämpft er, dass Lena am Abend die Provision seiner täglichen Geschäfte ausrechnen und schauen kann, wie sie damit ihre Schulden abzahlen wird. Sein verstorbener Bruder Ben, der immer wieder durch die Handlung geistert, stellt die Idee dieses Traumes idealtypisch dar, Biff und Happy versuchen je verschieden, wie zwei Seiten einer Medaille, ihn zu leben. Im Raum visualisiert wird dies durch die über die ganze Breite der Bühne geführten, oft geschrienen Gespräche. Bilder dieses «falschen» Lebens erinnern uns immer wieder an Situationen im eigenen Leben oder bei Bekannten, wo jedes Mal der «homo ludens», das spielerische Sich Entfalten, vom «homo mercantilis», dem kaufmännischen Kalkül, ausgetrickst wird.

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Der verstorbene Ben als Verkörperung des American Way of Live

Söhne als Vollstrecker der Träume des Vaters

Mit dem Älterwerden haben die meisten von uns Erfahrungen gesammelt und Beobachtungen gemacht, wie Eltern in ihren Kindern ihre eigenen Träume verwirklichen wollen und damit in vielen Fällen abstürzen und abstürzen lassen. Biff und Happy machen es auf eindrückliche Art anschaulich und nachvollziehbar. Willys Beziehung zu seinen Söhnen zeigt es dramatisch und schmerzhaft. Um diesen Alltag überleben zu können, muss immer wieder ausgewichen, verschwiegen, verdrängt und gelogen werden, bis gegen Schluss meist alles offenbar wird. So auch im Theater. Eigentlich lag tief unter dem verschütteten Alltag eine nie eingestandene und nie ausgesprochene Liebe zwischen Vater, Mutter und den Söhnen. Doch nur eigentlich. Aber was hat sie verschüttet? Aus der Sicht Millers sind es die Schwäche, die Schuld des Einzelnen. Für ihn hat der Mensch eine ethische Verpflichtung.

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Im Motel: Willy als Opfer «der Frau»

Der American Dream und seine Folgen

Der amerikanische Traum wird hier in der Form von 1950 zelebriert: im Dekor, in den Kostümen und den gekonnten Videoeinspielungen, die den Text ergänzen. Da sich vieles vom damaligen amerikanischen Traum inzwischen auch bei uns eingebürgert ist, hat die Geschichte vollumfänglich auch für uns Gültigkeit. Ohne irgendeine ideologische oder politische Anspielung und Argumentation, wie in der deutschen Literatur damals üblich, wird diese Zeit in den Handlungen, den Sehnsüchten und Ängsten, dem Versuchen und Misslingen der Menschen abgebildet. Die Antwort darauf werden wir folglich auch im individuell Persönlichen, weniger im Politischen suchen und finden.

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Selbstbefragung angesichts des American Dream

Reisender für Waren, nicht für Sinn

Wohin dieser Lebensstil führt, zeigt die Geschichte deutlich: zum «Haben», nicht zum «Sein», einer destruktiven, letztlich nekrophilen Existenzform. Der «homo mercator», der immer nur Geld und Reichtum sucht, führt unweigerlich in den Untergang. Anstelle dieser Zweck-Orientierung, so scheint mir, wäre eine Sinn-Orientierung gefragt, welche Ehrlichkeit, Kommunikation und Moral beinhaltet und im Glücksfall zum «homo viator», jener offenen Form des Seins, führen kann, die auf Sinn, nicht auf Zweck gerichtet ist. Der «Handlungsreisende» ist zwar ein Reisender, er geht und geht mit Waren für Geld, ist aber nie auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

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«Requiem»: Rückblick auf ein trauriges Leben

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