Was ist Würde?
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Peter Bieri, 1944 in Köniz bei Bern geboren, studierte Philosophie sowie klassische Philologie und lehrte als Professor Philosophie in Bielefeld, Marburg und Berlin. Einem breiteren Publikum dürften vor allem «Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens» (2001), «Wie wollen wir leben» (2011) und der nach seiner frühzeitigen Emeritierung 2007 unter dem Pseudonym Pascal Mercier erschienene Roman «Nachtzug nach Lissabon», der als Film unter der Regie von Bille August erfolgreich war, bekannt sein.
Auf das Thema Würde sei er gestossen, weil er immer wieder ganz unterschiedliche Erfahrungen, herausfordernde, aber auch beklemmende, mit diesem Begriff gemacht habe. «Dann wollte ich wissen, wie das alles zusammenhängt.» An den Anfang des Buches setzte er einen Text von Pedro Vasco de Almeida Prado, den dieser unter dem Titel «Über das, was wichtig ist» 1901 schrieb: «Würde ist nicht eine einzige Sache, sondern viele. Es kommt darauf an zu verstehen, wie diese vielen Sachen im Leben eines Menschen zusammenhängen. Wenn einer zu sagen versucht, was er da zu verstehen glaubt, so wird er, ohne es beabsichtigt zu haben, zu einem, der eine weitläufige Landkarte der menschlichen Existenz zeichnet.» Auf dieser Landkarte führt uns Peter Biere kundig von Ziel zu Ziel. Er philosophiert, indem er versucht, «begriffliches Licht in wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens zu bringen.»
«Unantastbar» heisst es immer wieder im öffentlichen Diskursen, sei die «Menschenwürde». Doch was ist die Menschenwürde? Was bedeutet sie? Woher kommt sie? Was verlangt sie? Verfassungsrechtlich begnügt man sich mit einem Negativkatalog. Da wird mutig proklamiert, um nur ja nicht in Abwägungskalamitäten mit Relativierungsoptionen zu gelangen. Selbst demokratisch beschlossene Lösungen in ebenso komplexen wie tragischen Konflikten werden derart in eine Entweder-oder-Alternative überführt und nicht selten als Verstoss gegen die Menschenwürde aufgehoben. Der Wunsch nach absoluter Orientierungssicherheit in dieser unsicheren Situation ist verständlich. Doch eine solche gibt es auch bei Bieri nicht im Singular, sondern lediglich im Plural und als Annäherung.
Ein Gebrauchsphilosoph
Der berühmte Wiener Philosoph Günter Anders (1902 – 1992) bezeichnete sich einmal als «Gebrauchsphilosophen». Den gleichen Titel möchte man Peter Bieri geben. Denn auch er schreibt nicht für die Universität und die Akademiker, sondern für die Gesellschaft, die Menschen ausserhalb des Elfenbeinturms. Er denkt zwar auf anspruchsvollem Niveau, gelegentlich muss man einen Abschnitt oder ein Kapitel zweimal lesen. Verständlich macht er sich mit anschaulichen Beschreibungen eigener oder fremder Erlebnisse und klug interpretierten Beispielen aus der Literatur. «Philosophie, wie ich sie verstehe, ist der Versuch, begriffliches Licht in wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens zu bringen.»
Weil der Autor von der «Vielfalt menschlicher Würde» ausgeht, wirkt er befreiend. Für den einen ist diese, für die andere jene Aussage wichtig und erleuchtend. Sein Buch ist kein Einführungskurs in die Philosophie, Schritt um Schritt, Satz um Satz philosophiert er an das Thema heran. Über Strecken glaubt man sich auch in einem Buch über Kommunikation oder Psychologie zu befinden. Gegliedert hat er den Stoff in die folgenden sieben Kapitel: Würde als Selbständigkeit; Würde als Begegnung; Würde als Achtung vor Intimität; Würde als Wahrhaftigkeit; Würde als Selbstachtung; Würde als moralische Integrität; Würde als Sinn für das Wichtige; Würde als Anerkennung der Endlichkeit.
Nicht nur an Weihnachten, auch später zu schenken
Ich schlage vor, das Buch so zu lesen, wie man eine Wanderung macht: durch Täler, auf Berge, zu Meeren, an Flüsse und über Wiesen, durch Dörfer und in Städte. Auf diesem Weg und links und rechts davon können wir unsere Entdeckungen und Erfahrungen machen, die zu Einsichten und Erkenntnisse führen. Auf den weit mehr als dreihundert Seiten stehen tausende von Sätzen, von denen die viele jemandem etwas Wichtiges bedeuten, bei denen er oder sie stoppt und nachdenkt, bei denen jemand das Buch weglegt und in sich geht. Was kann ein Buch mehr? Eine Zusammenfassung, das möge man mir verzeihen, kann ich nicht liefern.
Die ausgebreitete Karte mit der Vielfalt konkreter Realisierungen von Würde zeigt, dass die Würde des Menschen keine Anleitung ist für die Art, sondern für eine Art zu leben. Eine Pluralität menschenwürdiger Lebensvollzüge wird sichtbar, deren Kern eine Würde ist, die der Mensch sich schuldet, die im Letzten unantastbar ist. Gegen Ende des Werkes gibt es Dialoge, bei denen man sich bei einem philosophischen Disput im antiken Athen wähnt, mit seinen Anreden und Gegenreden. Und bei all dem habe ich meine persönliche Antwort zu finden. Grossartig, dass Bieri mit seinem Denken uns zu eigenem Denken herausfordert.
Persönlich betroffen machten mich, da ich auch etwas in die beschriebenen Jahre komme, seine Auseinandersetzung mit Demenz, die «Anmerkungen der Endlichkeit», die «Reise in die Nacht», das «Sterben» und «Sterben lassen», «Dem Leben ein Ende setzen» und «Einem Toten gegenüber». Damit, so denke ich, wird das Buch hochpolitisch. Denn ich glaube und nehme an, mit meiner Überzeugung nicht falsch zu liegen: Die Frage des Sterbens, des menschenwürdigen Sterbens, des selbstgewählten Sterbens wird die grosse Frage des nächsten Jahrzehnts sein – wie es in den Achtziger-Jahren die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch war. Und da ist ein Denker wie Peter Bieri, der nicht Antworten gibt, sondern Fragen stellt, absolut notwendig.
Bieri, Peter: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, Carl Hanser Verlag, München 2013. 381 Seiten