Wiedergelesen: Erich Fromm «Die Kunst des Liebens»
Zufällig bin ich auf Erich Fromm (1900 – 1980) gestossen, dessen Bücher mich in jungen Jahren durchs Leben begleitet haben, und habe mich spontan entschieden, seine letzten Werke nochmals zu lesen und zu besprechen. Es sind dies «Die Kunst des Liebens», 1956 publiziert, «Die Seele des Menschen», 1964, «Haben oder Sein», 1976, «Über den Ungehorsam», 1981 posthum veröffentlicht.
©fromm-online.org
Ich beginne mit «Die Kunst des Liebens», seinem wohl bekanntesten, weltweit 25 Millionen mal verkauften «kleinen Buch», wie er es nannte. Ich las es erstmals während der Mittelschulzeit. Es hat mich, so glaube ich im Rückblick, mit seinen Bildern und Vorstellungen der Gesellschaft in einer Zeit geprägt, in der ich begann, in diese hineinwuchs. Bewusst in Erinnerung blieben mir zwar nur Titel und Autor – sowie Gefühle, die meinen Alltag damals transzendierten. – Nachfolgend referiere und zitiere ich das Werk.
Vorwort und Einstieg
Auch bei der aktuellen Lektüre fordert mich der Autor gleich im Vorwort heraus: «Die Lektüre dieses Buches wird eine Enttäuschung für alle Leser sein, die sich von ihm eine leichtfassliche Unterrichtung in der Kunst des Liebens erwarten. Das Buch möchte ganz im Gegenteil zeigen, dass Liebe nicht ein Gefühl ist, dem man sich einfach hinzugeben braucht, ungeachtet dem Grad der Reife, den man erreicht hat; es möchte den Leser überzeugen, dass jeder Versuch der Liebe fehlschlagen muss, solange man sich nicht bemüht, die eigene Gesamtpersönlichkeit zu entwickeln und damit zu einer schöpferischen Orientierung zu gelangen, und dass man in der individuellen Liebe keine Befriedigung finden wird, solange man nicht imstande ist, seinen Nächsten zu lieben und dies wirklich demütig, mutig, ehrlich und diszipliniert tut.»
All diese Sätze habe ich vergessen. Jetzt, nach mehr als sechzig Jahren Lebens- und Liebeserfahrungen, lese ich das altbekannte Buch wie ein neues, unbekanntes. Von der verzaubernden Stimmung von damals ist wenig geblieben. Ich bin ernüchtert, schon bei der Einleitung «Ist Liebe eine Kunst? Dann erfordert sie Wissen und Bemühung.» An Forderungen, dass die Liebe Wissen und aktives Bemühen erfordere, kann ich mich nicht erinnern, lese aber weiter, dass es bei den meisten Menschen vornehmlich darum gehe, geliebt zu werden, nicht zu lieben, was im Verständnis der Liebe der westlichen Welt im 20. Jahrhundert fusst.
Der Mensch, das zweigeteilte Wesen
«Der Mensch – aller Zeiten und Kulturen – steht der Lösung dieser einen und immer gleichen Frage gegenüber: Der Frage, wie die Getrenntheit überwunden, wie man das eigene individuelle Leben transzendieren und eins werden kann. Jenseits dieses universalen Verlangens nach Vereinigung erhebt sich noch ein anderes, das biologische, das Streben nach Vereinigung zwischen den maskulinen und den femininen Polen.»
Die Idee dieser Polarität wird wohl am schönsten in dem Mythos ausgedrückt, dass Mann und Frau ursprünglich eins waren, dieses Eins in zwei Hälften geteilt wurde, die männliche Hälfte seitdem nach der verlorenen weiblichen Hälfte sucht, um sich wieder mit ihr zu vereinigen. Fromm argumentiert nicht mythologisch, sondern psychologisch: Das Geben in der Liebe ist kein Aufgeben, sondern ein Sich-Ergänzen. Liebe enthält Elemente der Fürsorge, der Verantwortung, der Achtung und Erkenntnis. «Man liebt, wofür man sich müht, und man bemüht sich für das, was man liebt.» Das Grundbedürfnis bleibt, sich mit dem andern Menschen zu vereinen.
Mann, Frau und Gott
Im Vergleich mit Freuds patriarchalen Vorstellungen definiert Fromm die Idealtypen des männlichen und weiblichen Charakters anders. Der männliche Charakter besitzt Eigenschaften wie Eindringen, Führen, Aktivität, Disziplin und Abenteuer, der weibliche Aufnahmefähigkeit, Beschützenwollen, Realismus, Geduld und Mütterlichkeit, nie idealtypisch, stets vermischt.
Weiter beschäftigt sich der Autor mit der Liebe zwischen Eltern und Kind, der Mutterliebe, der Nächstenliebe, der erotischen Liebe, der Selbstliebe, der Liebe zu Gott. Dafür holt er weit aus: Das letzte Ziel der Religion ist nicht der rechte Glaube, sondern das richtige Handeln. Von diesen Ausführungen sind nur Fragmente in meiner Erinnerung geblieben, das eine oder andere Wort oder Bild, die sich vielleicht unbewusst in meinem Fühlen und Denken festgesetzt haben.
Verfall der Liebe im Kapitalismus
Ausführlich beschreibt Fromm, wie die Liebe sich anfangs der 50er Jahre in der westlichen Gesellschaft entwickelt hat. Denn die Liebe eines Menschen wird von der Kultur, in der er lebt, beeinflusst, und diese wurde in der westlichen, kapitalistischen Welt wesentlich geprägt vom Grundprinzip des Marktes, dessen Wirtschaftsstruktur auf die Wertschätzungsstrukturen der Menschen einwirkte.
Am Kapitalismus kritisiert er weiter die Arbeitsteilung, die dem Einzelnen Unabhängigkeit und Individualität nimmt und ihn austauschbar macht. Um in dieser Gesellschaft zu leben und zu überleben, braucht der Mensch reibungslos zu funktionieren und sich gleichzeitig frei und unabhängig zu fühlen. Um Sicherheit zu erfahren, passt er sein Handeln, Denken und Fühlen an, womit er jedoch das Grundgefühl des Getrenntseins nicht überwindet, sondern sich in Arbeit und Konsum stürzt. Der Marketing-Charakter der Gesellschaft manifestiere sich auch in der Liebe, die in ihrem Zerfall verlangt, geliebt zu werden, ohne selbst zu lieben.
Die Praxis der Liebe
Schliesslich behandelt Fromm die Voraussetzungen der Kunst des Liebens, welche die gleichen sind wie bei jeder anderen Kunst: Selbstdisziplin, Konzentration und Geduld. Beim Glauben unterscheidet er zusätzlich zwischen irrationalem Glauben, bei dem man sich einer fremden Autorität unterwirft, und dem rationalen Glauben, der im eigenen Denken und Fühlen fusst. Nur der rationale Glaube jedoch kann Grundlage für menschliche Beziehungen wie Freundschaft und Liebe sein.
«Nur in einer Gesellschaft, in der, wie Marx sagt, die volle menschliche Entfaltung des Einzelnen die Bedingung der vollen Entfaltung aller ist, kann auch die Liebe zu einer gesellschaftlich relevanten Haltung werden.» Nach dieser Einschränkung löst Fromm die schiere Unmöglichkeit des Liebens auf: «Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, liebe ich alle Menschen, liebe ich die ganze Welt und liebe ich das Leben.» Solche visionäre und utopische Sätze sind mir seit damals geblieben.
Nachhaltige Entdeckungen
Sätze wie die folgenden sind mir bei der aktuellen Lektüre aufgefallen und begleiten mich wohl weiter:
«In der Liebe ereignet sich das Paradox, dass zwei Wesen eins werden und doch zwei bleiben.»
«Das Verlangen nach zwischenmenschlicher Vereinigung ist das stärkste Streben im Menschen.»
«Liebe ist die aktive Fürsorge für das Leben und das Wachsen dessen, was wir lieben.»
«Reife Liebe folgt dem Grundsatz: Ich werde geliebt, weil ich liebe, ich brauche dich, weil ich dich liebe.»
Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. Ullstein Verlag, Frankfurt/M 2003, 60. Auflage. ISBN 3 548 36784-4