20 Thesen für eine andere SRG

(Erstabdruck bei www.gfmks.ch)

Hanspeter Stalder, Medienpädagoge und von 1996 bis 2009 Mitglied des Publikumsrates von Radio und Fernsehen der SRG in der deutschsprachigen Schweiz, schrieb 1991 für Babylon, die Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Medien und Kommunikationskultur, 20 Thesen für ein anderes Schweizer Radio und Fernsehen. Fast 20 Jahre sind seither vergangen, in denen sich die Medienwelt fundamental verändert hat, und die SRG sich darin neu zu positionieren sucht. Nachfolgend die damaligen Thesen (kursiv) und aktuelle Anregung zum Weiterdiskutieren.

1. Für die Planung und Ausgestaltung eines künftigen nationalen Radios und Fernsehens müssen Bevölkerung und Politiker von der Überzeugung ausgehen, dass die Massenmedien für ein Land ein Gut von hoher politischer und kultureller Bedeutung sind – ähnlich wie die Luftreinhalteverordnung, die Sicherheitspolitik oder die Institution Schule.

Heute ist die Gesellschaft mehr denn je gefordert, die öffentliche Kommunikation weiterhin als ideelles Gut zu erhalten, angesichts der Tatsache, dass weite Bereiche des öffentlichen Lebens kommerzialisiert werden.

2. Primär sind Fernsehen und Radio notwendige Mittel für die soziale Kommunikation der heutigen und zukünftigen Gesellschaft, sekundär erst ein Teil der Wirtschaft.

Ein von der Werbung bezahltes Radio und Fernsehen unterscheidet sich fundamental von öffentlich rechtlichen Medien, die verpflichtet sind, einen Service public zu erbringen. Der medienpolitische Sündenfall mit nachhaltigen Folgen geschah, als bei der SRG Werbung eingeführt wurde.

3. Bei diesem wesentlichen Element  unseres gesellschaftlichen Lebens, der Massenkommunikation, hat die Kategorie Qualität einen absoluten Anspruch, die Kategorie Quantität bloss einen relativen.

Mit Medien Geld verdienen und mit Geld Medien produzieren, bleibt verschieden, auch wenn sich die Unterschiede immer mehr verwischen. Seit einiger Zeit zielen beide, das eine etwas mehr, das andere etwas weniger, auf Einschaltquoten und Reichweiten.

4. Im Blick auf die  globale Medienordnung ist der Auftrag an ein zukünftiges SRG-Radio und -Fernsehen wohl am besten als Auftrag für ein «kleines Schweizer Lokalradio und Lokalfernsehen» zu formulieren.

Wegen der enormen Zunahme verfügbarer Angebote in den letzten Jahren, ist es für die SRG heute obsolet, fremde Programme zu übernehmen oder «einzuschweizern», zumal das Publikum künftig vermehrt sein Programm selber zusammenstellt.

5. Respektiert man die heutige Situation der Produktion, Verteilung und Nutzung von Medien in unserer Gesellschaft, ist eine Beschränkung der Programmstunden und Programminhalte, ein Teilprogramm anstelle eines Vollprogramms also, wohl richtig als Leitidee und realisierbar in der Praxis.

In den letzten Jahrzehnten hat die SRG stets weiter expandiert, obwohl der konventionelle Radio- und Fernsehkonsum zurückgeht. Ein weiterhin expansives Schweizer Angebot nimmt das neue Konsumverhalten der Bürger nicht ernst.

6. Ein solches Radio und Fernsehen soll unsere Wirklichkeit widerspiegeln mit Programmen aus der Schweiz, für die Schweiz und über die Schweiz.

Ein so reduziertes Programm braucht ein neues, zukunftsgerichtetes Profil, das sich, angesichts der Medien-Globalisierung, auf unser Land konzentriert, auf die Menschen in der Schweiz und auf die an der Schweiz Interessenten im Ausland.

7. Die Einrichtung dieses künftigen Schweizer Radios und Fernsehens bedarf keines revolutionären Aktes. Es kann evolutiv aus dem heutigen heraus entwickelt werden.

Wenn die Reduktion auf das Notwendige und die Konzentration auf die Schweiz strategisch entschieden ist, kann die SRG schrittweise alles Unnötige abbauen: beispielsweise eingekaufte Serien und Spielformate, internationale Sportevents und Kinofilme, da diese von anderen Stationen um uns herum in ausreichendem Umfang angeboten werden.

8. Die Reflexion der schweizerischen Wirklichkeit hat im Bereich der Fiktion, mit Spielfilmen und Unterhaltungssendungen, und im Bereich der Non-Fiction, mit aktuellen Informationssendungen und Dokumentationen, zu erfolgen.

Im fiktionalen wie im informativen Bereich bietet unser Land eine Fülle interessanter, unterhaltsamer und wichtiger Inhalte für Sendungen, ohne dass deswegen der Blick auf die übrige Welt vernachlässigt werden muss.

9. Bei diesem Prozess des Ab-Bildens, der immer auch ein Prozess des Vor-Bildens ist, sollte eine Vielfalt verschiedener und sich widersprechender Kulturbegriffe zur Anwendung gelangen.

Zu berücksichtigen sind E- und U-Angebote, künstlerische Spitzenleistungen und Arbeiten von Amateuren aus allen Landesteilen. Die SRG soll mit ihren Programmen Kunst abbilden und selber Kunst schaffen.

10. Konzepte für ein neues Schweizer Radio und Fernsehen dürfen  nicht bloss auf Finanzkrisen, Einschaltquoten oder Parteienkritik re-agieren, sondern haben zu agieren, nach vorne zu blicken und  kreativ eine neue Identität zu suchen.

Das seit Jahren praktizierte Reagieren soll von einem zukunftgerichteten Agieren mittels vielfältigen, qualitativ hochstehenden Programmen abgelöst werden.

11. Als taktische Leitidee für die Profilierung einer künftigen SRG empfiehlt sich, anstelle des ständig fortschreitenden Anpassens an die Kommerzialisierung der Massenkommunikation, eine klare Abgrenzung anzustreben.

Die bisherige Strategie der Anpassung hat das Profil der öffentlich rechtlichen und der privaten und kommerziellen Sender verwischt, mit dem Ergebnis, dass auf allen Kanälen sehr oft Trivialität die Qualität ersetzt.

12. Lange Jahre versuchten Radio und Fernsehen einen Innen-Pluralismus. Das heisst, sie wollten innerhalb des einen Programms alle Bedürfnisse abdecken. Ein künftiges Schweizer Radio- und Fernsehen hat mit einem Aussen-Pluralismus zu rechnen. D. h. die SRG soll, als Ergänzung zu den andern Programmen, nur die für die Schweiz notwendigen bringen.

Die Entwicklung der Technik und der Konsumgewohnheiten bestätigt diese These. Es gibt heute genügend Sender und Angebote für jedes Bedürfnis; die SRG darf sich ruhig auf ihr schweizerisches Kerngeschäft beschränken.

13. Bevor man aus finanziellen Gründen Sendungen absetzt und Programme ändert, sind grundsätzliche und strukturelle Fragen zu lösen: die Neudefinition des SRG-Auftrages, eine neue Kooperationspolitik und neue Finanzierungsmodalitäten.

Wenn die SRG-Angebote verkleinert werden, braucht es weniger Kanäle, und die anlaufende Konvergenz im Strukturellen, Administrativen und Personellen bringt weitere Einsparungen. Auf Werbung, Sponsoring und Product Placement kann verzichtet werden; die Abkehr von einer kommerziellen Orientierung erweitert die Programmfreiheiten.

14. Um die komplexe und schwierige Aufgabe der Massenkommunikation erfüllen zu können, benötigt das Schweizer Fernsehen und Radio, ähnlich einem guten Verwaltungs- oder Stiftungsrat, eine starke Trägerorganisation, welche möglichst alle relevanten Gruppierungen der Schweiz repräsentiert.

Die Form des heutigen Vereins dürfte auch in Zukunft die Verankerung im Volk garantieren. Allerdings sind die Kompetenzen zu klären, Vereinfachungen zu suchen und Kosten zu sparen.

15. Abzuklären ist, ob man eine starke Generaldirektion und schwächere Regionaldirektionen oder umgekehrt eine kleinere Generaldirektion und Regionaldirektionen mit grösseren Kompetenzen haben will.

Heute würde ich angesichts der laufenden Konvergenzentwicklung für eine starke und dennoch verkleinerte Generaldirektion plädieren, welche die SRG in der neuen Medienwelt strategisch positioniert und dafür zukunftweisende Ziele setzt.

16. Für die Finanzierung, deren nationaler Verteilschlüssel ebenfalls zu diskutieren ist, eignet sich vielleicht ein Modell, nach welchem ein Drittel der Finanzen vom Bund, ein Drittel aus Konzessionen und ein Drittel aus Werbung, Sponsoring und dem Verkauf von Eigenleistungen stammen.

Auf Werbung ist zu verzichten; Leistungen sind weiter zu verkaufen; Bundessubventionen braucht es nicht; die Gebühren bleiben bei weniger Output gleich; die Mittel sollen in den Sprachregionen neu verhandelt und verteilt werden.

17. Breite Kreise des schweizerischen Kulturschaffens wären noch stärker als bisher in die Programme einzubinden, um die Vielfalt nationaler Wirklichkeiten möglichst adäquat darzustellen.

Diese Zusammenarbeit ist zu intensivieren: Die SRG sollte mit den freien Szenen vermehrt zusammenarbeiten. Analog dem Pacte de l’audiovisuel zwischen Fernsehen und Filmschaffen sollen auch andere Gruppen zur Kooperation eingeladen werden.

18. Damit die ganze Bevölkerung vom heute möglichen Aussen-Pluralismus profitieren kann, haben PTT und Private weitere Vermittlungskanäle, Relaisstationen und Verkabelungen, für ausländische Radio- und Fernsehprogramme einzurichten.

Die Kosten für die technische Übermittlung der Programme und die Post- und Telefongebühren sollte der Bund übernehmen.

19. Der öffentliche Diskurs über die Massenmedien Radio und Fernsehen kann indes nur gelingen, wenn wir alle gegenüber den Massenmedien interessierter, konfliktfähiger und toleranter werden.

Das betrifft vor allem die Bildung, die Publizistik und die Politik. Wenn die Medienbildung stärker gefördert wird, die Publizistik sich vermehrt der Medien annimmt, und die Politik die SRG als ein schützenswertes Gut betrachtet, würde die SRG von einer breiteren Öffentlichkeit getragen als heute.

20. Die Diskussion über einen neuen Schweizerischen Rundfunk darf durchaus aus einem gesunden Selbstvertrauen heraus geführt werden: Wir hatten und haben ein gutes Radio und ein gutes Fernsehen und werden auch künftig über ein solches verfügen, wenn die Verantwortlichen die Planung der Zukunft aktiv in die Hände nehmen und wir alle «uns in unsere eigenen Angelegenheiten einmischen» (Max Frisch).

Dies gilt auch heute noch. Wenn die SRG sich den grundsätzlichen Fragen stellt und in der veränderten Medienwelt sich klug positioniert, dürften wir in der Schweiz auch in zehn, zwanzig Jahren ein zeitgemässes, ja sogar ein besseres Radio und Fernsehen als heute haben.

Die zwanzig Thesen, verfasst vor beinahe zwanzig Jahren, und der heutige Kommentar dazu zeigen, dass Radio und Fernsehen stets auf die gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert und diese gleichzeitig beeinflusst haben. Als engagierte Staatsbürger spielen wir bei der Ausgestaltung der zukünftigen SRG eine wichtige Rolle: Lernen wir von der Vergangenheit und gestalten wir die Zukunft des grössten Medienunternehmens der Schweiz verantwortungsbewusst und aktiv mit!

Hanspeter Stalder ist freischaffender Medienpädagoge; von 1996 bis 2009 war er Mitglied des Publikumsrates der SRG D; er lebt in Berikon.