«Big Brother» stellt Fragen

Keine Angst: Mit «Big Brother» & Co geht die Kultur nicht unter. Eher verschwindet die Sendung, zusammen mit «Expedition Robinson», «Abenteuer Schweiz»,«House of Love», «To Club», «Der Frisör», «Girls Camp», «Der Bus», «Taxi Orange», «Alarm», «Inselduell», «Insel der Liebe» und weitern Nachahmern wieder vom Bildschirm, wie sie dort aufgetaucht sind. – Doch könnte es sich lohnen, auf einige Fragen, die die Sendung stellt, Antworten zu suchen.

Warum schon am Ende?

Premiere, dann Gesprächsthema Nummer Eins und schon rätselt man über das Ende der neuen TV-Formate. Zwei Gründen für ein nahendes Ende glaube ich zu kennen. Wie häufig im entfesselten Kapitalismus funktioniert auch hier das Prinzip der positiven Rückkoppelung. Wenn etwas Erfolg hat, will man mehr davon, bis es kollabiert, und vergisst dabei, dass die Natur seit Jahrmillionen mit der negativen Rückkoppelung funktionierte. Im Weiteren wird die Sendung Misserfolg haben, weil das Format nach dem Modell des Pendels von einem Extrem zum andern ausschlägt und nur kurz in der Mitte weil, wo nur Kreativität möglich ist.

Ein neues Fernsehformat

Warum «BB» Fernsehschaffende nicht kalt lässt, liegt daran, dass die holländischen Schöpfer des Sendekonzeptes damit ein neues Format kreiert haben. Und wer bei den Öffentlich Rechtlichen die Entwicklung von Sendungen mitbekommt und erlebt, mit welcher Akribie Profile erarbeitet werden, versteht die Faszination des ganz Anderen bei den Kommerziellen.

Das öffentlich rechtliche Fernsehen (das, nach dem ehemaligen ORF-Generalintendanten Gerd Bacher, «Geld braucht, um Sendungen zu machen») operiert nach den Massstäben der Kultur. Das kommerzielle («das Sendungen macht, um Geld zu verdienen») nach den Regeln der Ökonomie. Es ist befreit von jedem Kulturauftrag, nur dem Gewinn verpflichtet. Es zeigt die ungestaltete Natur oder das, was man dafür hält. Das wird z.B. bei den Protagonisten sichtbar, die sich auf keinen Auftritt vorbereiten und keine Rolle mehr lernen müssen. Sie sind einfach da und dürfen sich gehen lassen. Gefilmt wird der ungestaltete Alltag. In der Steigerung dem vom Zukunftsforscher Matthias Horx (www.zukunftsinstitut.de) diagnostizierten «Anti-Intellektualismus»-Trend folgend, «wo alle kultiviert sind, wird es langweilig».

«Big Brother» und die andern ähnlich konzipierten Sendungen dieses neuen TV-Formats sind, erstmals in der Fernsehgeschichte, im höchsten Masse fabrikmässig produziert und multimedial vermarktet. «Gemacht», nicht «gewachsen», also eher einer männlichen «Bad Taste»-Offensive, denn einem weiblichen Pflege, d.h Kultivierungsprinzip verpflichtet.

Medienerzieherische Fragen

Mit meiner Definition von Medienerziehung aus dem Jahre 1975 gehe ich das heutige Phänomen «BB» an, indem ich die Sendung nicht aus ihrer Vernetzung löse, sondern in der doppelten Interdependenz – Befindlichkeit der Gesellschaft, Befindlichkeit der Einzelnen – belasse:

«Medienerziehung versucht, durch verbesserte Kommunikation mit Massenmedien die persönliche Selbstverwirklichung und eine freiere Gesellschaft zu erreichen, und durch eine freiere Gesellschaft und persönliche Selbstverwirklichung eine verbesserte Kommunikation mit Massenmedien.»

Es scheint mir pädagogisch und gesellschaftlich wichtig, aber auch wissenschaftlich interessant, wenn man die massenmedialen Phänomen nicht «für sich», isoliert betrachtet. Dieser Ansatz ist nicht «l?art pour l?art», sondern essentiell herausfordernd, Antworten erheischend.

Diskutieren Sie mit Ihren Schülerinnen und Schülern über diese Beziehungen: Wie sie Medien anders rezipieren, wenn sie sich persönlich gut oder schlecht fühlen, wie sie sich anders fühlen, nachdem sie bestimmte Sendungen konsumiert haben. Oder wie das politische Klima anders wurde, nachdem die Medien kommerzialisiert wurden, aus welchem politischen Klima heraus die Medien sich ändern mussten. Oder wie sie anders kommunizieren, seit in den Massenmedien aus Information Infotainment wurde, wie die Medien anders wurden, weil wir heute anders kommunizieren.

Eine neue Kommunikation mit dem Fernsehen

Im Zeitalter des Films ging man ins Kino und sah sich einen Film an, von Anfang bis Ende. Dieser Epoche folgte jene des Radios, das uns u.a. den «Musikteppich» bescherte, der sich weiter entwickelte zum «Sprachteppich». Das Fernsehzeitalter brachte anstelle der «Sendung» das «Programm» und dieses mutierte zum «Bilderteppich».

Von solcher Art ist die Kommunikation in «Big Brother». Was einst gestaltete Geschichten waren, wird «Erlebnisteppich» mit ungestalteten Geschichtsfragmenten.

Im Container und in ähnlichen Settings wird der Voyeurismus zur primären Existenzform: ohne Türen und Grenzen, alles entgrenzend und daher ohne Form.

Eine neue gesellschaftlich Kommunikation

Wenn wir angesichts von «BB» nach den heutigen Formen der gesellschaftlichen Kommunikation fragen, hilft die Idee des Paradigmenwechsels von der «Informationsgesellschaft» zur «Erlebnisgesellschaft» (Gerhard Schulze, 1993), mit Erlebnisgastronomie, -marketing, -pädagogik usf. weiter. Der Diskurs, den die Medien leisten, geschieht nicht mehr in Form eines Austausches von Informationen, was einst die Aufklärung ermöglichte, sondern von Erlebnissen.

Den Inhalt des heutigen Diskurses bilden (mediale) Erlebnisse, welche die Diskurspartner nicht im Kopf, sondern im Herzen treffen: emotional, direkt, ganzheitlich, «subkutan».

Schule, Kirche und Sozialwesen sprechen die Menschen meist über den Kopf, Werbung, Marketing und «Big Brother» über das Herz, die Emotionen, die Triebe an. Dem ganzen Menschen wird man jedoch erst gerecht, wenn man mit ihm als Kopf-, Herz- und Hand-Wesen (Heinrich Pestalozzi) kommuniziert.

Die Spitze des Eisbergs

«Big Brother» macht überdeutlich, was in jeder Kommunikation mit Massenmedien geschieht: Leben aus zweiter Hand, mediales, sekundäres Leben. Günther Anders meinte 1956 in «Die Antiquiertheit des Menschen», dass wir immer unerfahren bleiben, wenn wir nicht selbst das Leben er-fahren. Dass wir gelebt werden, wenn wir nicht selbst leben, fahre ich fort.

Fragt man angesichts dieser Sendung weiter, stösst man auf unerwartete Erkenntnisse. Die Sendung macht – wie die Spitze des Eisbergs – sichtbar, was wir normalerweise nicht sehen. Danach zu fragen, bringt uns weiter: in der Kommunikation mit den Massenmedien, in der Verbesserung der Gesellschaft, in der persönlichen Selbstverwirklichung. Dies ist mir wichtiger, als «Big Brother» zu messen mit einem Massstab, dessen Urmass wir nicht kennen.