Antworten auf Mediengewalt

Vororbemerkungen zu: Pädagogik, Mediengewalt und Gewalt

Pädagogik hat zum einen Teil die Funktion einer „Reparatur-Werkstatt“ für gesellschaftliche Missstände, zum andern den Auftrag, Kinder und Jugendliche zu befähigen, sich in der heutigen Welt zu bewähren und sie mitzugestalten. Beides ist im Folgenden gemeint.

Mediengewalt ist hier im Blick auf alle Medien und spezifisch im Blick auf das Fernsehen gedacht: auf Spielfilme und Informationssendungen.

Und Mediengewalt steht immer im Bezug zur realen Gewalt.

So betrachtet ist die beim Schweizer Fernsehen gezeigte Mediengewalt sicherlich nicht alarmierend. Die Fernsehschaffenden haben das Problem erkannt und gehen im Allgemeinen sorgfältig damit um. Dies darf ruhig als vorausgeschicktes Lob verstanden werden.

Mediengewalt ist eine Form der Gewalt – und nicht einmal die wichtigste. Die reale Gewalt ist häufiger, intensiver, verbreiteter und im Allgemeinen auch wirksamer. Die strukturelle Gewalt – Lärm, Beton, Gesetze, Arbeit – werden stärker als Gewalt empfunden als die Mediengewalt. Und im Blick auf Kinder und Jugendliche bedeutet die Erziehungsgewalt, die „Schwarze Pädagogik“, immer noch der wichtigste Grund der Kinder- und Jugendkriminalität. Das geschlagene Kind schlägt zurück, bleibt weiter eine Grundannahme.

Fünf «Ant-Worten» auf die «Worte» der Mediengewalt

Die Ursachen, Formen und Wirkungen der Mediengewalt sind vielfältig. Das hat Professor Heinz Bonfadelli eindrücklich beschrieben. Und nicht anders verhält es sich mit den Antworten, die wir darauf zu geben haben.

Antworten auf die Mediengewalt wünsche ich mir von fünf gesellschaftliche Instanzen; eine davon ist das Fernsehen. Eine einzige Instanz kann das Problem nie lösen, es braucht das Zusammenwirken vieler. Es braucht Politik und Bildung in den verschiedensten Formen – und die Professionalität und Ethik der Fernsehschaffenden.

Die Antworten habe ich schwerpunktmässig bestimmten Akteuren zuordnen. Doch dies trifft nicht ausschliesslich, sondern lediglich akzentuiert zu.

Antwort der Pädagogik: die Medienerziehung

Gemeint sind vor allem jene Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen intensiv zu tun haben: die Eltern, Erzieherinnen, Sozialpädagoginnen und Sozialarbeiter.

Die erste Antwort heisst: Die Betroffenheit, die Verunsicherung und Verwirrung, eventuell auch die Angst oder Wut, die Kinder oder Jugendliche durch Mediengewalt erleben, müssen von den Erziehenden und den Jugendlichen wahrgenommen und nicht verdrängt, zugelassen und nicht geleugnet werden. Wenn wir sie nicht wahrnehmen und zulassen, nehmen auch die jungen Menschen sie nicht wahr, wird sie nicht zugelassen.

Weiter gilt, gemeinsam dran zu bleiben. Die negativen Medienerlebnisse nicht möglichst schnell mit positiven Real- oder Medienerlebnissen zu überspielen. Sonst ist mit diesen Erfahrungen nichts mehr zu machen, tauchen sie ins Unterbewusste ab und sind verdrängt.

Dran bleiben kann heissen: darüber reden, genauer: darüber reden lassen. Denn wenn wir antworten, statt fragen, wenn wir im Sinne eines Lehrgesprächs suggerieren, dass es ja nur Film war, dass das alles nicht so schlimm sei, antworten wir auf einer objektiven Ebene. Das Kind, der Jugendliche aber hat auf einer subjektiven Ebene etwas ganz anderes erlebt.

Darüber reden lassen kann auch heissen, zeichnen oder spielen und eventuell darüber nochmals sprechen lassen. Es geht darum, das Filmerlebnis zu verarbeiten, nicht den Film zu erarbeiten. Das, was Angst macht, kommunzierend zu bearbeiten, aufzulösen und es schliesslich als „arteigenen Stoff“ ins Ich einzubauen.

In etwa ist es das, was die Antipädagogen postuliert haben: „Erziehung“ durch „Beziehung“ zu ersetzen. Auf unsere Situation übertragen: das Kind mitsamt der konsumierten Mediengewalt wahrnehmen und mit ihm in Beziehung treten.

Ein Modell, das vielleicht hilft, ist das „medienpädagogische Dreieck“. Es bedeutet, in der Triade Kind, Erzieher, Medium, dass die Erzieherin das medienkonsumierende Kind beobachtet und für diese Wirkungen beim Medium die Ursache sucht. Oder dass der Erzieher das Medium beobachtet und bei brutalen Auffälligkeiten nachsieht, wie diese wohl beim Kind angekommen sind.

Antwort der Schule: die Medienpädagogik

Eine Aufgabe der Schule in Bezug auf die Medien – und damit auch die Mediengewalt – ist sicher das Sensibilisieren und Problematisieren. Das heisst, die Schule sollte exemplarisch Gelegenheit bieten, Medienerlebnisse, also auch Mediengewalt, zu verarbeiten und Form und Inhalt der Sendungen zu erarbeiten.

Neben den Lehrplänen, die in den meisten Kantonen Medienpädagogik enthalten, brauchen Lehrerinnen und Lehrer Angebote für die Aus- und Weiterbildung. Für die Ausbildung läuft es bei den Pädagogischen Hochschulen langsam an. Bei der Weiterbildung sieht es momentan noch mager aus, müssen wir wohl, von schönen Ausnahmen abgesehen, weiter warten.

Kritisch muss jedoch verfolgt werden, wie weit bei diesen Angeboten wirklich Medienpädagogik, die Erziehung zum sinnvollen Umgang mit den Massenmedien, gemeint ist, und nicht bloss, was heute „in“ ist, der Einsatz des Computers in der Schule.

Nicht unwidersprochen möchte ich es stehen lassen, wenn bei einem Podiumsgespräch von einer Dozentin einer Pädagogischen Hochschule auf meine Forderung, mehr zu tun, gekontert wurde: „Man kann doch von der Schule nicht erwarten, dass sie sämtliche Probleme der modernen Konsumgesellschaft löst.“ Ich bleibe bei meiner Forderung, mehr zu tun.

Antwort der Andragogik: die Medienkompetenz

Was hier der Erwachsenenbildung zugewiesen wird, gehört auch in die Schule, tritt dort vielleicht etwas in den Hintergrund. Was für die Pädagogik formuliert wurde, gehört auch in die Andragogik, vielleicht etwas weniger ausgeprägt.

Die Medienanalyse, die in der Schule praktiziert wird, kann in der Erwachsenenbildung vielleicht etwas zurückstehen, dafür ergänzt werden durch die Reflexion der Medienrezeption als individueller und gesellschaftlicher Akt.

In der Medienkunde kann der Film oder die Fernsehsendung mit brutalen, angsterzeugenden Inhalten, schockierenden Bildern und Tönen hinterfragt werden: Wie ist das gemacht? Welche Wirkungen werden damit wohl erzielt? Filmtechnisches, -historisches, -ästhetisches Wissen kann zum intellektuellen und emotionalen Diskurs führen und so helfen, die „Detonation“ des Mediums bei mir zu verarbeiten.

Medienkonsum, also auch Mediengewalt, spricht menschliche Bedürfnisse an. Wenn wir über unsere Erfahrung mit Mediengewalt sprechen, kommen wir bald zur Frage: Warum wollen Menschen Mediengewalt überhaupt sehen? Und wenn wir darauf einsteigen, merken wir bald, dass wir, wenn wir über einen Film sprechen, mehr über uns als über den Film sprechen. Und schon bald sind wir im Blick auf Produktion und Konsum von Mediengewalt bei der Frage, was denn früher war, das Huhn oder das Ei.

Auch Erwachsene können durch Mediengewalt verunsichert, ja verletzt werden. Doch sollten diese im Lauf des Lebens die Fähigkeit erworben haben, dies intra-personal, mit sich allein, oder inter-personal, mit andern zusammen, zu verarbeiten.

Antwort der Geragogik: die Medienbildung

Es überrascht vielleicht, dass ich die alten Menschen separat aufführe. Quantitativ sind sie fürs Fernsehen zwar wichtig, qualitativ oft nicht speziell berücksichtigt. Für sie ergeben sich nochmals neue Antworten. Alte erleben die reale Welt häufig als sehr bedrohlich. Weil sie nicht mehr mitkommen, zu langsam oder zu schwach sind. So auch in der Medienwelt, auch bei der Mediengewalt, wo Älteren oft nur der Rückzug bleibt.

Ohne zu bevormunden, sollten von der Geragogik angemessene Formen gefunden werden, wie die spezifischen Anliegen der alten Menschen, resp. ihre Sorgen und Nöte, ihre Behinderungen und Verletzungen, die sie auch durch die Mediengewalt erfahren, behoben oder gemildert werden können.

Wie die Eltern für die Kinder, wie die Andragogik für die Erwachsenen, so hat sich die Geragogik dieser Fragen anzunehmen, in einer Mediengesellschaft vermehrt auch der Medien und somit auch der Mediengewalt.

Was hier über die Seniorinnen und Senioren gesagt wurde, gilt analog auch für Menschen mit Behinderungen.

Antwort der «Mediagogik» (TV-Produktion): die Mediendidaktik

Auch das Fernsehen hat seinen Beitrag zu leisten. Zum einen möchte ich festgehalten und verdanken, was bereits gemacht wird. Zum andern lege ich einige Anregungen vor, die vom Fernsehen vielleicht weitergedacht – und im besten Fall, aufgenommen werden können.

Wer die Dokumentation der Ateliers de Montreux 2003 liest, wo sich das Kader des Fernsehens der deutschen, französischen und italienischen Schweiz mit der Mediengewalt befasst hat, stellt fest, dass dort engagierte, intensive und differenzierte Diskussionen stattgefunden haben, die hoffentlich weitergehen.

Wichtig scheint mir im Anschluss an die Lektüre nicht, dass weitere Regeln, also Antworten, formuliert werden, sondern dass vor allem die Diskussionen weiter geführt, also Fragen gestellt werden – und diese auch an die Öffentlichkeit kommuniziert werden.

Ich begrüsse es, dass SFDRS gewaltsame Sendungen nicht mit einer roten Markierung versieht, wie es das Tessiner Fernsehen macht. Die Gründe dafür und dagegen abwägend, wünsche ich mir etwas, dass nicht wie ein Punkt die Auseinandersetzung beendet, sondern etwas, das wie ein Doppelpunkt die Diskussion weiterführt. Wie in vielen andern Situationen des Lebens ist die endgültige Antwort gleichzeitig ihr Tod, hilft hingegen das Auf-dem-Weg-Sein, also das Fragen in der konkreten Situation.

Zudem wünsche ich mir, dass Fernsehen und Radio das Thema der Mediengewalt, wie auch andere medienpädagogische Themen vermehrt behandelt. Im Schulfernsehen, im «Zistigs-Club», im «Quer» oder in den «Sternstunden», im Radio-«Kinderclub», in «Passage», «Memo», «Reflexe» oder «Kontext».

Die Fernsehverantwortlichen haben es in der Hand, den Sendeplatz und den Zeitpunkt gewaltverdächtiger Beiträge zu wählen. Vielleicht könnten sie von Zeit zu Zeit auch für diesbezügliche internen Diskussionen Aussenstehende, Pädagoginnen, Pädagogen oder «gewöhnliche» Zuschauerinnen und Zuschauer einladen, die wahrscheinlich anders reagieren als die Professionellen, die täglich solche Beiträgen sehen.

Veranstaltungen wie die heutige könnten vom Fernsehen oder den Mitgliedgesellschaften auch für weitere Publika durchgeführt werden. Sicherlich würden sie dem Fernsehen nicht zum Schaden gereichen, sondern der Öffentlichkeit zeigen, mit welchem Verantwortungsbewusstsein SFDRS die Fragen diskutiert und nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Auch die informierenden und aufklärenden Hinweise im Programm, wie sie FSDRS gelegentlich bringt, etwa die Einführungen von Michel Bodmer zu den «Delicatessen», sind ein Dienst am Kunden, ein Service public. Im Pressetext, in der An- oder Abmoderation könnte dies vielleicht noch vermehrt gemacht werden.

Grundsätzliches zu den fünf Antworten

Bei allem Frage nach der Gewalt und der Mediengewalt gehen wir nicht vom Bild einer heilen Welt aus. Auch das Fernsehen darf dies nicht mit seinen Informations- und Unterhaltungssendungen. Dass Medien, indem sie abbilden, immer auch eine Vorbildrolle einnehmen, ist zu berücksichtigen. Diese Janus-Gesichtigkeit macht unsere Fragestellung komplex. Dass die Medien schliesslich, ob sie wollen oder nicht, mit ihren Bildern Sinn stiften, Sinnbilder verbreiten, verleiht den Medien eine grosse gesellschaftliche Bedeutung, verlangt besondere Sorgfalt.

Gewalt gibt es beim Sport, in der Arbeitswelt und zwischen den Ländern. Wir haben also damit zu leben. Gerade wir Schweizer müssten lernen, besser damit umzugehen, besser zu streiten. Die Auseinandersetzung mit der Mediengewalt kann damit «probehandelnd» auf die Auseinandersetzung mit der realen Gewalt vorbereiten – und wird damit zu einem Stück Lebensschule.

C.G. Jung empfiehlt, auch die «Schatten» zu leben. Die Vertreter der Humanistischen Psychologie plädieren für «kreatives Streiten» und propagieren «Aggressions Labs». Und selbst die Bibel spricht vom «heiligen Zorn». Daran muss man sich vielleicht auch wieder mal erinnern, wenn man sich von einer übertriebenen «political correctness» in seiner Vitalität eingeschränkt fühlt.

Mein Grundmodell des medienpädagogischen Tuns verlangt, die einwegige Medienkommunikation hinüber zu führen in die zweiwegige der personalen Kommunikation. Dies gilt für die Mediendidaktik, wo die mit Medien transportierten Inhalte ins vorhandene Wissen integriert werden, und für die Medienerziehung, wo die medial vermittelten Erlebnisse und Informationen zu verarbeiten sind. Das gilt auch für die Spezialfrage der Mediengewalt.

Zum Schluss eine Frage und der Versuch einer Antwort

Zum Schluss habe ich eine Frage – und versuche gleich eine vorläufige Antwort. Eine empirische Untersuchung besagt beispielsweise – ich erfinde es –, dass nach dem Konsum eines bestimmten brutalen Films 10% der Kinder verstärkt gewaltbereit, 30% eher ängstlich und gehemmt und 60% sich neutral verhalten. Was bedeutet das für uns als Väter? Als Mütter? Als Erzieherinnen? Als Erzieher?

Nichts, finde ich. Wenn ich diese Ergebnisse als Antwort nehme. Nehme ich sie jedoch als Frage, mit der ich die konkrete Situation und die Reaktionen meiner Kinder beobachten, befragen kann, dann sind sie mir nützlich, ganz im Sinne des Goethe-Satzes: «Was ich weiss, das sehe ich.» – Liege ich da richtig oder falsch?

«Kriege entstehen im Bewusstsein der Menschen», heisst es in der Präambel der Unesco-Charta. Mit Bewusstsein hat der Konsum von Mediengewalt stets zu tun, weshalb ich meine, dass unser Thema hoch politisch ist.

Ich hoffe zum Schluss, dass das Gespräch zwischen den Fernsehschaffenden und dem Publikum heute im Bereich Mediengewalt und künftig in andern Fragen der Medienpädagogik weiter geht, dass wir hilfreiche Antworten finden, indem wir immer neue Fragen stellen.