Bilder für die Bildungsarbeit – Plädoyer für ein neues Paradigma

Aus der Volksschule und allen nachfolgenden Schulen ist das Denkmuster, das Paradigma «Wissenschaft schafft Wissen» allgegenwärtig und selbstverständlich. Stehen wir beruflich oder privat vor einem Problem, suchen wir Hilfe bei der Wissenschaft, gebrauchen wir Bücher, Fachartikel und Datenbanken, bevor wir uns selbst persönlich damit auseinander gesetzt oder jemand andern um Hilfe angefragt haben. Wir glauben der Wissenschaft mehr als unserem eigenen Denken und Fühlen, dem Wissen und den Erfahrungen unserer Mitmenschen, die uns und unsere Probleme kennen.

Nur selten oder zu spät merken wir, dass das, was wir dabei erhalten, wohl Antworten, aber nicht unsere Antworten sind, dass wir in diesem Prozess leicht die Rolle des Subjektes verlieren und zum Objekt der Wissenschaft werden, uns persönlich abkoppeln, in diesem Diskurs gelegentlich den Bezug zu uns verlieren, uns selbst verlieren.

Hunderte von Filmen und Tausende von Bildern liessen mich andere Leben und andere Welten, z. B. Alter und Altern, immer wieder erleben. Sie haben mich bewogen, dem bekannten Denkmuster, ein anderes, ein neues Paradigma gegenüber zu stellen, das nicht in der Wissenschaft, sondern in der Kunst gründet:

«Kunst schafft Können»

Ich meine, dass auch die Kunst angegangen werden könnte, um die Probleme der Menschen und der Welt zu lösen, ausgehend von der Überzeugung, dass Künstler über den Menschen und die Welt ein grosses, kaum wahrgenommenes, oft verborgenes Wissen haben, das oft noch mehr bietet – nämlich Können, d.h. Lebenshilfe.

Künstler haben solches Wissen! Vielleicht liegt hier auch ein Grund des Glücksgefühls, das Kunst auslösen kann. Künstler sehen anders, von einem andern Standpunkt und mit einer andern Perspektive. Und deshalb lassen sie uns oft Altbekanntes neu und anders sehen. Künstler sehen die Welt und die Menschen mit einem «certain regard». Die Folgenschwere des «richtigen» respektive «falschen» Sehens beschreibt uns das französische Diktum «Mal vu, mal dit», dem ich «Mal fait» hinzufügen möchte.

Dass die Antworten, welche die Kunst zu geben vermag, wirklich mit uns zusammenhängen, kommt wohl daher, dass wir bei der Wahrnehmung eines Kunstwerkes wesentlich mitbeteiligt sind. Der Künstler spricht das «Wort», wir geben ihm die «Antwort» und daraus entsteht der Dialog, aus dem erst Einsicht, Erkenntnis, Erfahrung entsteht. Wir sind nicht bloss Kunst-Konsumenten, sondern immer auch Kunst-Co-Produzenten. Es ist bekannt, dass wir am besten lernen, wenn wir neues Unbekanntes in altes Bekanntes einbauen können. Darum dürften Bilder für die Bildungsarbeit – und fürs Leben – so ergiebig sein.

Konkrete Bilder als Antworten und Fragen

Am 24. Juni hat Pro Senectute Schweiz zum fünfzehnten Mal ihre «Visionierung neuer audiovisueller Medien zum Thema Alter» in der Paulus-Akademie Zürich durchgeführt. Dabei kamen, neben zwei Dutzend andern Medien die beiden Schweizer Dokumentarfilme «I’ m Just a Simple Person» von Stefan Haupt und «Verne – Ein Dutzend Leben» von Jiri Havrda zur Aufführung. Wie die beiden Filme angekommen sind, wie das Publikum darauf reagiert hat und was darüber gesprochen wurde, das wurde für mich zur Illustration und zum «Beweis» der Gültigkeit meines hier postulierten neuen Paradigmas für eine Bildung durch Bilder, für das Leben-Lernen-Können durch Kunst.

Die Bilder und Töne der beiden Filme haben die Anwesenden sensibilisiert für das, was Alter und Altern sein kann: für die Vielfalt, die Widersprüchlichkeit, die Unschärfe der Antworten. Und ich denke, dass diese Eigenschaften der Antworten bereits selbst wesentliche Bestandteile jeder Antworten auf die Frage nach dem Alter und Altern darstellen. Sie nämlich ergänzen den Singular der alltäglichen Antworten durch einen Plural. Sie widersprechen der allzu selbstsicheren Eindeutigkeit durch eine Zwei- oder Mehrdeutigkeit, ein grundsätzliches Sowohl als auch. Sie verwischen die Schärfe der trivialen Oberflächlichkeit der Fakten durch die Unschärfe durch ein Vielleicht, Eventuell, Möglicherweise.

Im weiteren haben die Bilder und Töne der zwei Dokumentarfilme Bilder und Töne unserer Erinnerungen, persönliche Vermutungen, Hoffnungen und Befürchtungen, wachgerufen und aktualisiert. Das Lächeln und Lachen, das Sinnieren und Grübeln, die spontanen Zwischenbemerkungen und ersten Kommentare während und nach der Vorführung dürften Ausdruck dafür sein, dass die «Worte» der Filmemacher «Ant-Worten» gefunden haben, Wir sind nach einer solchen Filmvorführung nicht nur erfahrener, weil wir «probehandelnd» etwas erfahren haben. Wir sind auch reicher, weil wir «virtuell» in einem andern «univers» ein Stück eines fremden Lebens gelebt haben.