Der «freie Auftragsfilm» – ein Diskussionsvorschlag

Es gibt das freie Filmschaffen und den Auftragsfilm. Normalerweise produzieren soziale Institution, wenn sie über ihre Tätigkeit einen Film brauchen, einen Auftragsfilm. Freie Filmschaffende realisieren einen Film zu einem sozialen Thema, wenn sie ein solcher Thema anspricht, sie sich dazu gedrängt fühlen.

Ein freier Filmer oder eine freie Filmerin hat eine eigene (oder fremde) Idee, sucht Geld dafür und realisiert einen Film, bei dem er oder sie die volle Verantwortung trägt.

Ein Auftragsfilmer oder eine Auftragsfilmerin bekommt von einem Produzenten eine Idee (macht sie sich zu eigen), bekommt Geld dafür und realisiert den Film, bei dem die letzte Verantwortung beim Auftraggeber liegt.

Oft liegen Welten zwischen dem einen und dem andern. Doch nicht immer! Ich kann mir eine Synthese vorstellen. Die Schaltstelle zwischen dem einen und dem andern ist nämlich der Grad der Freiheit, den die Realisatorin oder der Realisator geniesst. Nebensächlich ist, wer woher das Geld kommt, wer die Idee ursprünglich hatte. Wie steht es also mit der Freiheit der Realisation beim freien Film, beim Auftragsfilm? Diese kann hier wie dort gross oder klein sein, ist vom Produzenten und seinem Verständnis von Film abhängig.

Ich persönlich gehe davon aus, dass das Paradigma «Wissenschaft schafft Wissen» einseitig ist und ergänzt werden muss mit dem andern Paradigma: «Kunst. schafft Können». Dies anzuwenden und zu nutzen, ist mein Anliegen, wenn ich einen Film produziere. Denn ich denke, Filmschaffende können den «Sozialen» wirklich Neues bringen, sie finden und erfinden neue Bilder und Töne, formulieren neue Fragen und Antworten – doch nur, wenn sie in einem möglichst umfassenden Sinn frei und unabhängig arbeiten können. Ich plädieren für einen «freien Auftragsfilme».

Ein Beispiel: «Freie Auftragsfilme» von Pro Senectute Schweiz

Der Film «Alt-Tage - Begegnungen mit dem Alter» war die erste Arbeit, die Pro Senectute 1987 von einer freien Filmschaffenden, nämlich Marlies Graf, realisieren liess. Der 45minutige Dokumentarfilm zeigt auf einer ersten Ebene differenzierte Bildes des Alters, auf einer zweiten Dienstleistungen der Altersarbeit, die als Begegnungen mit dem Alter verstanden werden, und auf einer dritten, dass dies alles bei Pro Senectute geschieht.

Im Jahre 1992 folgte von Christof Schertenleib der 55minutige Dokumentarfilm «AltersWeGe - Alternatives Wohnen und Pflegen im Alter». Eine Langzeitstudie, in drei dezentralen Pflegestationen im Berner Seeland. aufgenommen. Darin kommen die alten Menschen, das Pflegepersonal, die Angehörigen und die Nachbarn zu Worte. Viel Grundsätzliches über Leben und Lebensqualität im Alter kommt in Wort und Bild zur Darstellung.

«Carnaval intergénération» heisst eine Produktion, welche Vincent Mercier im Jahre 1987 für Pro Senectute realisiert hat. Es ist ein Dokumentarfilm über das Wiederbeleben eines Karnevals in La Chaux-de-Fonds. Darin kommen die alten Leute, die sich am Projekt beteiligt haben, und die Animatorinnen zu Wort. Ein Beispiel soziokultureller Animation im Bereich der Altersarbeit, das Vorbildwirkung hat.

Im Jahre 1993 waren es dann Martin Wirthensohn und Jacqueline Surchat, die den Auftrag erhielten, vier Kurzspielfilme unter dem Titel «Auf dem Weg – Filme zum Älterwerden» zu realisieren. In unterhaltsamen, teils lustigen, teils ernsten Spielszenen werden diverse Themen der Pensionierung angespielt und angesprochen. Die vier. Kurzfilme werden vor allem in Kursen zum Thema Altersvorbereitung gezeigt.

Parallel dazu entstand in der welschen Schweiz der Dokumentarfilm «La retraite, ça me travaille!» von André Antoniadis, André Béday und Claude Bianchi. Darin werden Menschen vor der Pensionierung nach ihren Vorstellungen befragt, wird ihr Leben geschildert, werden ihre Hoffnungen und Sehnsüchte gezeigt und für die Zuschauerinnen und Zuschauer zur Diskussion gestellt.

Als vorläufig letzte Arbeiten realisierte Marlies Graf 1996 die beiden halbstündigen Dokumentarfilm «Bewegter Montag» und «Bewegter Mittwoch». Darin sind je vier Männer und vier Frauen, eingebettet in eine Volkstanzgruppe in Biel und eine Turngruppe in Derendingen, porträtiert. Die Autorin zeichnet differenzierte und ganzheitliche Bildes des Alters, des Lebens als Frau oder als Mann im Alter.

Für alle fünf Produktionen gilt, dass sie nicht hundertprozentig realisiert werden konnten, wie geplant; meist fehlte es an den dafür nötigen Mitteln.

aus «Bewegter Montag, Bewegter Mittwoch» von Marlies Graf

Pars pro toto – «HUG – l'hôpital cantonal universitaire de Genève

Selbstverständlich müssten jetzt zwei, drei Dutzend weitere Beispiele von mehr oder weniger radikal realisierten «freien Auftragsfilmen» vorgestellt werden. Dies soll an anderer Stelle geliefert werden. Ich möchte bloss eines der neuesten Beispiele erwähnen: «HUG – l'hôpital cantonal universitaire de Genève» von Richard Dindo.

Ein Dokumentarfilm über das Kantonsspital Genf, in dem es weniger um die Technologie der modernen Medizin geht oder die Omnipräsenz der Mediziner, als um das Schicksal einfacher Menschen – das Spital gesehen als ein Ort der Menschlichkeit. Der Film ist ein impressionistisches Kaleidoskop einer kleinen Stadt, in der das gesellschaftliche Leben kulminiert. Von der Geburt bis zum Tode, vom Glück bis zur Trauer, erlebt man hier auf engem Raum in kürzester Zeit das ganze pulsierende Leben zwischen Krankheit, Genesung und Sterben.

Dindo hat für diese Arbeit eine respektable Summe zur freien Verfügung erhalten. Was dabei herausgekommen ist, ist genau das, was so dringend nötig ist, ein Filme mit dem «andern Blick», «avec un certain regard». Hier gibt es das zu sehen und zu hören, was wir nicht schon gesehen und gehört haben. Und von diesem andern Blick können gerade die Menschen profitieren, die schon immer in dieser Welt (hier des Spitals) gelebt haben, die oft «betriebsblind» sind, an einer «déformation professionelle» leiden.

Überzeugungen und Absichten dahinter

Die fünf Film- und Videoproduktionen von Pro Senectute Schweiz entstanden in Zusammenarbeit mit dem Fernsehen, z.T. auch dem Fernsehen der Universität Zürich. Die Beschaffung der Finanzen geschah, bis auf eine Ausnahme, vollständig durch Pro Senectute. Die Filmerinnen und Filmer arbeiteten im Rahmen eines relativ offenen Konzeptes, sie erhielten überall Einsicht, wo sie es wünschten; niemand jedoch, ausser der ausführende Produzent, durfte intervenieren. Er verstand sich jedoch vor allem als Gesprächspartner, der Fragen stellte und die Antworten von der Realisatorin oder dem Realisator verlangte. Interventionen von Seiten der Produktion gab es keine. – Ähnlich wird es sich bei Richard Dindo verhalten haben.

Ein neuer Ansatz – ein Antrag

Diese Form der Zusammenarbeit versucht, Künstlerinnen und Künstler für das Soziale zu gewinnen, um so einerseits das freie Kunstschaffen zu fördern und anderseits für das Sozialwesen neue Bilder und Töne sowie echte Innovationen zu erhalten.

Wäre ein solcher Ansatz nicht auch von Seiten der Förderungsinstitutionen wie Bund und Kantone zu diskutieren? Weil damit nämlich zwei Projekte eine Synergie erfahren und so Ressourcen gespart werden können. «Freie Auftragsfilme» wären Kulturförderung und Sozialarbeit in einem.

Konkret: Wäre es zu prüfen, künftig vermehrt auch eine solche Produktionsweise zu propagieren. Es wären dafür vielleicht neue PR-Aktivitäten nötig, die bis heute noch nicht versucht wurde.