Erfahrungen im Wandel der Zeiten

In der Medienpädagogik ergibt sich immer wieder die folgende Diskussion: Primärerfahrung versus Sekundärerfahrung, leben aus erster Hand versus Leben aus zweiter Hand. Persönlich postulierte ich zwar seit langer Zeit den Primat der primären, der direkten Erfahrung, vor der sekundären, der indirekten Erfahrung. Doch ist das wirklich so einfach?

Hugo Kükelhaus beklagte in «Organismus und Technik» (fischer alternativ, Frankfurt am Main 1979) «die Zerstörung der menschlichen Wahrnehmung». Karl W. Bauer und Heinz Hengst diskutierten in «Wirklichkeit aus zweiter Hand« (rororo sachbuch, Reinbek 1980) die «Kindheit in der Erfahrungswelt von Spielwaren und Medienprodukten». Neil Postman sorgte mit seinem Bestseller «Das Verschwinden der Kindheit» (S. Fischer, Frankfurt 1983) bei Pädagogen und andern für berechtigte Aufregung. Hartmuth von Hentig forderte mit seinem Essay «Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit» (Hanser, München und Wien 1985) einen kleineren Leserkreis zum Neudenken heraus. Weitere analytische Beiträge zu dieser Entwicklung finden sich bei den französischen Postmodernen, etwa bei Jean Baudrillard.

Mit einem Blick in die Geschichte möchte ich der Diskussion über «Erfahrung und Medien» einige Elemente beifügen. Sie werden hier zwar nicht ausgeführt, sondern lediglich angesprochen. Zehn Formen von «Erfahrungen» sollen vorgestellt werden. In die Thematik eingeführt hatte schon vor Jahren Christian Doelker in seinem Werk «Wirklichkeit in den Medien» (Klett & Balmer, Zug 1979).

Bei meinen Überlegungen zu den verschiedenen «Erfahrungen» gehe ich von der Definition in «Meyers Grossem Taschenlexikon» (Mannheim 1983) aus: Erfahrung ist «die erworbene Fähigkeit sicherer Orientierungen, das Vertrautsein mit bestimmten Handlungs- und Sachzusammenhängen ohne Rückgriff auf ein hiervon unabhängiges theoretisches Wissen. Erfahrung führt, sich auf endlich viele Beispiele und Gegenbeispiele in der Anschauung stützend, zu einem elementaren Wissen, auf das auch jedes theoretische Wissen bezogen bleibt». Damit soll die Zeitreise beginnen.

1. Die Real-Erfahrung

Die Höhlenbewohner erlebten wohl alles, was ihnen geschah, direkt, im Hier und Jetzt, also leibhaftig und real: die Tiere und Pflanzen, die Landschaften, den Wind, das Wetter und die andern Menschen.

Jede Erfahrung des Gegenüber war ein «Feedback der Welt» auf die Äusserungen des Menschen. Die ganze Person war in diese Erfahrungen eingebunden: Körper, Geist und Seele.

2. Die Bild-Erfahrung

In der damaligen «Hochkultur», als die Venus von Willendorf geschnitzt und die Wandbilder von Altamira und Lascaux gemalt wurden, war die Zeit reif für eine neue Art von Erfahrung. Nicht das Stück Geweih, nicht der Farbstoff an der Wand, also das Reale und Materielle, war wichtig und entscheidend. Sondern die Be-Deutung der Zeichnung, das, was sie meinte, was dahinter stand.

Weitere Ausformulierungen dieser Erfahrung lieferten die griechischen Bildwerke, welche für die ethische und ästhetische Erziehung des Volkes standen. Wieder eine andere Dimension boten die Bilder der Glasfenster der christlichen Gotik, die die moralische und religiöse Erziehung durch diese «biblia pauperum» zu leisten hatten.

3. Die Schrift-Erfahrung

In den vorderasiatischen Kulturen entstanden Schriften, die sich, als neue Ausdrucksmittel, von der Wortschrift, über die Silbenschrift zum Alphabet entwickelten. Zeichen in Form von Worten, Silben, Lauten, wurden Symbole: Diese Systeme grafischer Zeichen ermöglichten neue Arten medialer Kommunikation.

Es ging darum, diese Sinnbilder in logische und psychologische Zusammenhänge zu bringen und miteinander zu verbinden. Es galt, diese als Teil einer Wirklichkeit zu deuten und dann mit andern Wirklichkeiten zu vergleichen.

4. Die Wort-Erfahrung

Mit Johann Gutenberg erfolgte 1445 nochmals eine Weiterentwicklung. Buchstaben bildeten Wörter, Wörter verbanden sich zu Sätzen, Sätze erhielten Bedeutung und Sinn. Diese entschlüsseln sich erst durch einen intellektuellen Akt die Kodierung und Dekodierung  der gedruckten Texte.

Damals begann eine neue Form der Erfahrung, die auf einem Abstraktionsprozess beruhte. Ein mächtiger Baum mit bunten Blättern und rauschenden Ästen vor einer nebligen Spätherbstlandschaft wird zum Wort «Baum», in der deutschen Sprache mit vier Buchstaben geschrieben.

5. Die Film-Erfahrung

Eben ist es ein Jahrhundert her, seit Méliès und Lumière die ersten «laufenden Bilder» als fiktionale oder dokumentarische Geschichten auf die Leinwand projizierten. Was auf dem Jahrmarkt begann, entwickelte sich zu einer neuen, der siebten Kunst, vielleicht zur spezifischen Ausdrucksform des zwanzigsten Jahrhunderts.

Durch das Gesamt der filmischen Mittel, in einer Folge von Stilen und Epochen, von Persönlichkeiten und Theorien entwickelt, entstand eine audiovisuelle «Sprache», die sich als Mischung von Traum und Wirklichkeit erweist. Vielleicht war die Geburt und der Aufstieg des Kinos nicht zufällig zeitgleich mit der Entwicklung der Psychologie des Unbewussten.

6. Die Radio-Erfahrung

Am 11. Juni 1931 wurde der Landessender Beromünster eingeweiht. Neue Qualitäten wiederum boten die akustischen Erfahrungen mit dem Grammophon, vor allem aber mit dem Radio. Der bis anhin wenig genutzte Gehörsinn erhielt eine neue, grössere Bedeutung.

Radio war vor allem ein Medium der Verinnerlichung, der Innerlichkeit, sei sie fiktional oder non-fiktional. Radio wurde, so ungewohnt es klingen mag, ein wichtiges Bildmedium. Seine Erfahrungen sind vor allem Erfahrungen der inneren Bilder-Welten.

7. Die Musik-Erfahrung

Eine besondere Bedeutung erhielt in den Awww.hanspeter.stalder.chchtziger- und Neunzigerjahren die Musik, sei es ab Schallplatte, Kassette, CD usw. Die Zeit des bewussten Musikhörens, des aktiven Hinhörens, des «zweiohrigen Hörens», wird abgelöst durch eine neue Erfahrungs-Form, die Berieselung, das «einohrige Hören», die «psychologische Funktionalisierung der Musik» (Rüdiger Liedtke)..

Der «Musikteppich« begann für Arbeit und Freizeit, für Konsum und Lernen zu dienen. Diese Folie wird zum Teil geradezu «dreidimensional», d. h. sie umschliesst das ganze Leben des modernen Menschen bei Tag und Nacht. Durch Videoclips, eigene Music-TV-Sender und Muzak in den Supermärkten wird Musik zu einem bedeutenden, vor allem auch kommerziell wichtigen System.

8. Die Fernseh-Erfahrung

1951 installierte CBS-Network erstmals zwischen dem Atlantik und dem Pacific eine Liveübertragung. Im Frühsommer 1953 strahlte das Schweizer Fernsehen seine ersten Sendungen aus. 1954 begann die ARD in Deutschland ihr Gemeinschaftsprogramm. Mit diesem neuen Medium wurden alte Grenzen der Erfahrung gesprengt, neue Möglichkeiten eröffnet. Vor allem waren es Zeit und Ort, die überwunden wurden.

Das Fernsehen hat unsere Welt-Sicht verändert, physische Präsenz ist keine Bedingung mehr für Begegnungen und Erfahrungen. Vor allem waren es, durch den Live-Charakter des Mediums bedingt, die Entgrenzung von Raum und Zeit. Innen wird aussen, aussen innen. Dort wird hier, hier wird dort. Alles begann, in den Achtziger-Jahren mit der «Informationsgesellschaft» (Karl Steinbuch) und Ende des Neunziger-Jahre mit der «Erlebnisgesellschaft» (Gerhard Schulze).

9. Die Digital-Erfahrung

Nach fünf Jahrhunderten Bilder-Hochkultur, von Fra Angelico und Michelangelo bis zu Picasso und Malewitsch, begann sich 1941 mit Konrad Zuse und dem ersten Computer eine neue Erfahrung in den Vordergrund des gesellschaftlichen Bewusstseins zu schieben: die digitalisierte Erfahrung. Mit ihr wurde das, was bisher mit Bildern, Lauten, Wörtern, Buchstaben oder Tönen kommuniziert wurde, in bestimmte Folgen der Zahlen 0 und 1 übersetzt.

Dieser Prozess des Erfahrens geschieht, will man ihn beschreiben und verstehen, in einem unmenschlichen Tempo, nämlich in Lichtgeschwindigkeit, und ist unseren Sinnen nicht mehr erreichbar und begreifbar.

10. Die Virtual-Reality-Erfahrung

Eine neue Entwicklung des Computers, die Virtual Reality (VR), geht wohl dahin, dass mit dem Material dieser reduzierten, d.h. abstrakten Zahlen-Wirklichkeit eine neue, virtuelle Wirklichkeit generiert wird, «die unsere Vorstellung von der Wirklichkeit verwandeln wird, dass die Wirklichkeit am Ende des 20. Jahrhundert hinter einem Bildschirm verschwindet» (Howard Rheingold).

Wie die Atomphysik zeigt, dass feste Materie aus unendlich kleinen immateriellen Teilchen besteht, so verhält es sich bei der Virtuellen Realität. Aus den zwei Zahlen, die durch Elektrizität aus dem Nichts entstehen und wieder dorthin versinken, werden neue Erfahrungswelten geschaffen, die uns in ihren Anwenden umfassend 

Zum Schluss

Lasse ich das, was die Jahrzehnte, die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch als «Erfahrung» verstanden wurde, Revue passieren, so entsteht bei mir die Überzeugung, dass die Mahnrufe vom Verschwinden der Kindheit, der Wirklichkeit, der Realität und der Erfahrung relativiert werden müssen. Es handelt sich nicht um ein endgültiges Verschwinden als Beenden, sondern um ein Verschwinden als Transformation. Ein endgültiges Verschwinden könnte man freudig begrüssen oder enttäuscht betrauern. Eine Transformation fordert uns heraus: zum Hinsehen, zum Betrachten, zur Analyse. Und dies, so glaube ich, wird von uns verlangt.

Was ist heute Erfahrung? Was kann Erfahrung in unserer Welt alles sein? Wie sind die verschiedenen Formen der Erfahrung zu deuten und zu werten? So beginnen heute neue Fragen. Stehen wir nicht stumm am Ende, sondern fragend an einem neuen Anfang.

Die Medienpädagogik ist hier vor neue, herausfordernde Fragen gestellt. Neben dem Berg nichtssagender medienpädagogischer Literatur gibt es mindestens drei Neuansätzen, die weiterführen und zur Kenntnis zu nehmen sind. Zuerst der Ansatz des Amerikaners Joshua Meyrowitz: «Die Fernsehgesellschaft - Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter» (Beltz, Weinheim 1987). Dann zwei radikale Ansätze, die bis heute noch kaum wahrgenommen wurden: die pessimistische Gesamtschau des Wiener Philosophen Günther Anders (1902 - 1992) in «Die Antiquiertheit des Menschen» (Band 2, C.H. Beck, München 1956) und die optimistischen Ansätze des tschechischen Philosophen Wilém Flusser (1920 - 1991) in «Lob der Oberflächlichkeit - Für eine Phänomenologie der Medien» (Schriften, Band 1, Bollmann, Bensheim und Düsseldorf 1993). Mit Meyrowitz, Anders und Flusser dürfte eine neue Diskussion über die Medien in der Gegenwart und für die Zukunft einsetzen, die herausfordert, betroffen macht und fasziniert.